Rehabilitation (Stuttg) 2003; 42(6): 378-379
DOI: 10.1055/s-2003-45462
Aus der DVfR
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Öffentliche Erklärung der Deutschen Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter zur Rehabilitationspolitik der Bundesanstalt für Arbeit[1]

Public Statement of the German Society for Rehabilitation of the Disabled on the Federal Employment Agency's Rehabilitation Policies Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e. V.1
  • 1Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e. V., Heidelberg
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Publication Date:
16 December 2003 (online)

Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) ist maßgeblicher Träger von Leistungen zur beruflichen Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen. Sie finanziert nahezu 100 % der Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation für Jugendliche mit Behinderung und etwa 40 % der Maßnahmen für behinderte Erwachsene.

Die ausgesprochen schwierige Situation auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt hat die Einnahmen- und Ausgabensituation der BA in unvorhersehbarem Umfang verschlechtert; sie ist im Jahr 2003 auf Bundeszuschüsse in Höhe von ca. 8 Mrd. € angewiesen, um ihren Haushalt auszugleichen. Mit großer Sorge hören wir, dass es Bestrebungen gibt, einen erwarteten defizitären Haushalt 2004 - ohne dass dieser bereits aufgestellt wäre - auch durch Einbezug des Leistungsbereichs Berufliche Rehabilitation zu entlasten.

Frühzeitig warnen wir deshalb vor Überlegungen, deren Umsetzung den für eine Teilhabe am Arbeitsleben notwendigen Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderungen reduziert; hierzu gehören:

Leistungen, die nur noch für ausgewählte, erfolgreich eingliederbare behinderte Menschen bewilligt werden sollen, obwohl das Grundgesetz in Artikel 3 eine derartige Benachteiligung ausdrücklich verbietet. Wer stärker behindert oder besonders belastet ist, würde damit endgültig ausgegrenzt. Die BA verstieße damit gegen das Sozialstaatsprinzip berufsvorbereitende Lehrgänge für behinderte Jugendliche, die öffentlich ausgeschrieben werden sollen, obwohl der Gesetzgeber für einen Teil dieses Personenkreises die Notwendigkeit eines spezifischen Leistungsspektrums in Spezialeinrichtungen zur Absicherung des Rehabilitationsgesamtplanes vorsieht. Kurzfristige wirtschaftliche Effizienz erhielte den Vorrang vor nachhaltiger Rehabilitation und pädagogischer Wirksamkeit. Gleichzeitig stünden von der Politik langjährig aufgebaute und geförderte sowie im SGB IX festgeschriebene hochkompetente Rehabilitationseinrichtungen teilweise leer; dies wäre volkswirtschaftlich eine teure Lösung. Im Übrigen würde sich die BA der Strukturverantwortung für die Einrichtungen entziehen, die ihr vom Gesetzgeber auferlegt ist und in deren Rahmen sie in der Vergangenheit erhebliche finanzielle Mittel zur institutionellen Förderung eingesetzt hat Förderlehrgänge für besonders lernschwache und deshalb besonders förderungsbedürftige Jugendliche, die drastisch verkürzt werden sollen. Dies käme geradezu einer Aushebelung des Sozialstaatsprinzips gleich betriebliche Ausbildungen, die auch für behinderte Jugendliche Vorrang vor außerbetrieblichen Ausbildungen erhalten sollen, obgleich die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe dramatisch zurückgegangen ist. Im „Bericht der Bundesregierung zur Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen” gemäß § 160 SGB IX musste eingeräumt werden, dass lediglich 5300 der 1,1 Mio. Ausbildungsplätze in der Privatwirtschaft mit schwerbehinderten Jugendlichen besetzt sind, was nicht einmal einer Quote von 5 Promille entspricht. Dies würde den Kreis betroffener Menschen zusätzlich benachteiligen „Qualifizierungsbausteine”, die an die Stelle vollständiger und damit vollwertiger Ausbildungen und Umschulungen treten sollen und bestenfalls zu einer einfachen, anforderungsarmen Berufstätigkeit verhelfen. Dies würde eine zukünftige Arbeitslosigkeit begünstigen. Gleichzeitig stünde auch dies dem Benachteiligungsverbot des Artikel 3 Grundgesetz und dem Berufekonzept des Berufsbildungsgesetzes entgegen

Kostensätze für die Leistungserbringer, die auf das Niveau von Durchschnittssätzen abgesenkt werden sollen, unabhängig von den hinter den Preisunterschieden stehenden differenzierten Zielgruppenangeboten. Damit verstieße die BA gegen die 1999 mit den Berufsbildungs- und Berufsförderungswerk geschlossenen Rahmenverträge, die eine Kalkulation nach kaufmännischen Grundsätzen vorsehen, um das für den Personenkreis behinderter Menschen notwendige Leistungsspektrum aufrecht erhalten zu können fehlende Mittelzuweisungen bei den Leistungserbringern, die dann zur Kündigung von Personal mit hoher Rehabilitationskompetenz gezwungen sind und somit das Ausbildungs- und Förderungsniveau nicht mehr halten können, das für die Qualifizierung, Beratung und Betreuung der behinderten Menschen nötig ist. Betroffen wären wie in den vorgenannten Fällen die Leistungsberechtigten, deren Teilhabe am Arbeitsleben aufgrund der sich verschlechternden Förderangebote geschmälert würde. Dies hätte auch Auswirkungen auf die Maßnahmen anderer Träger der beruflichen Rehabilitation (Renten-, Unfallversicherungen und Sozialhilfeträger)

Es bleibt festzuhalten, dass mit den o. g. Szenarien

das grundgesetzlich verbriefte Recht behinderter Menschen auf Chancengleichheit (Gleichstellungsgebot) und die Ziele des SGB IX missachtet würden, die gesetzlich vorgesehenen Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation behinderter Menschen ihrem Auftrag nicht mehr angemessen nachkommen könnten.

Niemand, der die derzeitige arbeitsmarktpolitische und finanzielle Entwicklung verfolgt, verkennt den Zwang zur Kostensenkung vor dem Hintergrund einer öffentlichen Verschuldung, die die 2-Billionen-Grenze erreicht hat. Wir appellieren an die Rehabilitationsträger, insbesondere aber an die Bundesanstalt für Arbeit:

Halten Sie an elementaren Grundsätzen unseres Sozialstaates auf dem Weg zur Konsolidierung Ihres Haushaltes fest! Riskieren Sie nicht den Zusammenbruch eines beispielhaften Rehabilitationssystems, das seit vielen Jahren erfolgreich Menschen mit Behinderungen fördert und sie durch qualifizierte Berufstätigkeit am Arbeitsleben und der Gesellschaft teilhaben lässt! Suchen Sie mit den Leistungsträgern gemeinsam nach Wegen aus der Finanzkrise! Nutzen Sie während der laufenden Verhandlungen den Sachverstand und die Gesprächsbereitschaft der Belegschaften in den Rehabilitationseinrichtungen, die über ein hohes Maß an Erfahrungswissen und Kompetenz verfügen!

Oktober 2003

1 Diese Erklärung wurde vom Geschäftsführenden Vorstand der DVfR verabschiedet und basiert auf einer Initiative des Arbeitsausschusses „Beruf und Arbeit Behinderter” (Leitung: Prof. Dr. Wolfgang Seyd, Hamburg).

1 Diese Erklärung wurde vom Geschäftsführenden Vorstand der DVfR verabschiedet und basiert auf einer Initiative des Arbeitsausschusses „Beruf und Arbeit Behinderter” (Leitung: Prof. Dr. Wolfgang Seyd, Hamburg).

 

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