Cent Eur Neurosurg 2003; 64(4): 143-144
DOI: 10.1055/s-2003-44621
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialA. Unterberg1
  • 1Neurochirurgische Klinik und Poliklinik, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg
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Publication Date:
21 November 2003 (online)

Die häufigste Todesursache von Patienten, die wenigstens 24 Stunden ein schweres Schädel-Hirn-Trauma überleben, ist der therapierefraktär erhöhte intrakranielle Druck. Dies belegt die enorme Bedeutung der Hirnschwellung, des Hirnödems und der Erhöhung des intrakraniellen Drucks als unmittelbare Folge eines schweren zerebralen Traumas hinsichtlich der Mortalität.

Entlastende Dekompressionstrepanationen sind seit Beginn der Neurochirurgie bekannt, jedoch - aufgrund wenig überzeugender klinischer Resultate - lange Jahre hinweg verlassen und als geradezu obsolet etikettiert worden.

In Deutschland haben Gaab et al. diese OP-Methode in der Mitte der 80er-Jahre wieder aufgegriffen und publik gemacht. Bei sorgfältig ausgewählter Indikation (nach Ausschöpfen konservativer Therapiemöglichkeiten, besonders bei jüngeren Patienten) wurde über gute, zumindest befriedigende klinische Resultate berichtet.

Nicht zuletzt deswegen ist in den letzten Jahren erneut eine kontrovers und zum Teil emotional geführte Debatte darüber entbrannt, ob und wann nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma eine Dekompressionstrepanation durchgeführt werden kann bzw. sollte.

Es steht außer Frage, dass durch eine Dekompressionstrepanation - zumindest vorübergehend - der erhöhte intrakranielle Druck gesenkt werden kann. Nicht klar hingegen ist, ob Mortalität und schließlich auch klinisches Endergebnis durch eine solche Maßnahme signifikant beeinflusst werden.

Seit nunmehr längerer Zeit ist es evident, dass es zur Klärung dieser Frage einer prospektiven kontrollierten randomisierten Studie bedarf, die möglichst auf internationaler Basis multizentrisch konzipiert werden sollte. Tatsächlich geschieht dies nun nach langem Vorlauf, organisiert durch Peter Hutchinson (Neurochirurgie, Universität Cambridge).

Mittlerweile gibt es eine Reihe von Publikationen, die über die Ergebnisse einer Dekompressionstrepanation nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma berichten, wie z. B. Kleist-Welch Guerra et al., Münch et al., Schneider et al., Kunze et al., Polin et al. Diese meist retrospektiv analysierten Ergebnisse einzelner Zentren lassen sich nur schwer untereinander vergleichen. Besonders schwierig ist die Formulierung einer klaren Indikation für die Dekompressionstrepanation über Jahre hinweg, selbst innerhalb eines Zentrums.

Ähnlich verhält es sich mit der Arbeit von Messing-Jünger et al., die nun im Zentralblatt für Neurochirurgie publiziert wird. In einem Zeitraum von etwa 3 Jahren (1996-1998) wurden in der Düsseldorfer Klinik 87 Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma behandelt. Bei 25 dieser Patienten wurde primär, d. h. unmittelbar nach Aufnahme und ohne Ausschöpfen konservativer Therapiemaßnahmen (zur Beherrschung des erhöhten intrakraniellen Drucks?), eine Dekompression durchgeführt, bei weiteren 26 Patienten als sekundäre Maßnahme nach Ausschöpfen der konservativen Therapie des erhöhten ICP. Dies macht bereits deutlich, dass kein klarer Algorithmus zur Indikationsstellung der chirurgischen Maßnahme existiert hat. Weiter wird berichtet, dass nur 36 Patienten dieser Serie ausschließlich konservativ behandelt wurden (durch Monitoring und Therapie des erhöhten intrakraniellen Drucks). Dies wiederum macht deutlich, dass mehr als die Hälfte der Patienten entweder primär oder sekundär dekomprimiert wurden. Vergleicht man dies mit den eher zurückhaltend durchgeführten Dekompressionskraniotomien in anderen großen klinischen Serien, stellt man fest, dass in der vorliegenden Serie zwei- bis dreimal so viel Patienten dekomprimiert wurden als anderweitig.

Die vorliegende Arbeit (S. 145-150) muss sich an einigen Stellen Kritik gefallen lassen. Die Autoren geben an, dass lediglich 70 Patienten (der behandelten 87 Patienten) nachuntersucht wurden. Das Manuskript gibt aber nicht an, wie viele Patienten der dekomprimierten bzw. der konservativ behandelten Gruppe tatsächlich nachuntersucht wurden. Wurden sie tatsächlich untersucht? Wie geschah dies? Wurde wenigstens ein standardisiertes Telefoninterview durchgeführt?

Die Autoren stellen fest, dass sich in beiden unterschiedlichen Behandlungsgruppen hinsichtlich der Mortalität kein signifikanter Unterschied ergibt. Nur bei der Betrachtung von primär versus sekundär dekomprimierten Patienten ergab sich eine „signifikant” bessere Überlebensrate bei dem sekundär operierten Kollektiv.

Aufgrund der vorliegenden Daten kann der Schlussfolgerung der Autoren, dass hinsichtlich der Überlebensrate ein leichter, nicht signifikanter Vorteil von Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma durch die dekompressive Kraniektomie demonstriert wird, jedoch nicht gefolgt werden. Die verglichenen Behandlungsgruppen sind arbiträr zusammengesetzt ohne ein auch nur einigermaßen festgelegtes Protokoll. Wenn ein solches schon nicht prospektiv vorlag, so sollte doch wenigstens retrospektiv eine rationale Grundlage für die jeweilige Entscheidung erkenntlich werden. Außerdem ist der Begriff „Dekompressionskraniotomie” nicht eindeutig definiert. So finden sich z. B. in der Dekompressionsgruppe Patienten, bei denen unmittelbar nach primärer operativer Behandlung einer raumfordernden intrakraniellen Blutung der Knochendeckel nicht wieder eingesetzt wurde. Hier bleibt unklar, ob z. B. gleichzeitig eine Duraerweiterungsplastik durchgeführt wurde. Auch werden Patienten eingeschlossen, die wohl am ehesten wegen einer traumatisch bedingten intrazerebralen Blutung sekundär entlastet wurden. Es darf nicht verwundern, dass sich angesichts dieses äußerst heterogenen Patientengutes keinerlei signifikante Ergebnisse erkennen lassen.

Die vorliegende Arbeit ist die Aufarbeitung und Analyse eines Patientenkollektivs einer einzelnen Klinik, die zweifellos im Hinblick auf eine interne Qualitätskontrolle von Nutzen sein kann. Sie dient jedoch leider nicht zur Klärung der Frage, ob und wann eine dekompressive Kraniektomie bei der Behandlung des schweren Schädel-Hirn-Traumas indiziert ist. Sie ist auch leider nicht geeignet, um nach den Regeln der Evidence Based Medicine mit anderen retrospektiv aufgearbeiteten Kohortenstudien vergleichbar zu sein, da wichtige Angaben zur Datenerhebung und Angaben zu Fallzahlen der tatsächlich untersuchten Patienten fehlen.

Um die Diskussion der Bedeutung und der Indikationsstellung zur Dekompressionskraniektomie beim schweren Schädel-Hirn-Trauma weiterzuführen, ist es - wie eingangs erwähnt - notwendig, in einer prospektiven randomisierten Studie mit klar definierten Ein- und Ausschlusskriterien sowie einigermaßen standardisierter operativer Technik die Frage der Effektivität der Dekompressionskraniektomie beim schweren Schädel-Hirn-Trauma zu beantworten. Es bleibt zu hoffen, dass die geplante Untersuchung des britischen Medical Research Council zu einem aussagekräftigen Ergebnis führt.

Prof. Dr. A. Unterberg

Neurochirurgische Klinik und Poliklinik

Universitätsklinikum Heidelberg

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