Fortschr Neurol Psychiatr 2003; 71(5): 232-233
DOI: 10.1055/s-2003-39069
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

DRGs und Psych-PV

DRGs and Psych-PVJ.  Klosterkötter1
  • 1Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität zu Köln, Köln
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Publication Date:
12 May 2003 (online)

In dem Beitrag von Andreas u. Mitarb. [1] werden interessante Überlegungen zu der Frage angestellt, wie ein Klassifikationssystem für Fallgruppen in der Versorgung psychisch Kranker zu konzipieren wäre, das den Kriterien der Transparenz, der Praktikabilität, der Realibilität und der Validität entspräche. Aus einigen der bisherigen internationalen Konzeptionen, dem Australischen Mental Health Classification and Service Course Project (MH-CASC) sowie den beiden aus den USA stammenden Klassifikationsversuchen des Psychiatric Severity of Illness Index (PSI) und des Psychiatric Patient Classification Systems (PPC), glauben die Autoren, bereits Ansatzpunkte gewinnen zu können, aus denen sich geeignete Klassifikationsdimensionen ableiten ließen. Drei solcher Dimensionen, die der krankheitsbezogenen Faktoren, die der soziodemographischen Faktoren und die des Therapieverlaufs werden mit den ihnen zuzuordnenden, empirisch als bedeutsam erwiesenen Variablen herausgestellt und für die Entwicklung eines deutschen Klassifikationssystems empfohlen, das sich für die Abschätzung des Ressourcenverbrauchs die von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) entworfene Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) zunutze machen sollte. Dabei sind sich die Autoren in erfreulich selbstkritischer Weise der Vorläufigkeit ihrer konzeptionellen Überlegungen bewusst und weisen darauf hin, dass die von ihnen gewählten Kriterien und Dimensionen weder in inhaltlicher und statistischer noch auch in kulturspezifischer Hinsicht bereits als überprüft gelten können. Wie alle anderen Befürworter der DRGs auch, erwarten sie von der Einführung eines pauschalierten Entgeltsystems eine Erhöhung der Leistungstransparenz und eine Steigerung der Effizienz, lassen in diesem Zusammenhang aber auch die berechtigte Sorge mit anklingen, dass sich die Leistungsqualität der stationären Versorgung gravierend vermindern könnte. Der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV), also dem aus der Psychiatriereform hervorgegangenen Finanzierungssystem, das doch die bisher von der Pauschalierung ausgenommenen Krankenhausbereiche definiert, messen sie allerdings keine Bedeutung als Korrektiv, als Alternative oder auch als Ausgangspunkt sachlich und ökonomisch adäquater Weiterentwicklungen der Versorgung psychisch Kranker zu.

Diese letztgenannte Einschätzung verleiht der Übersichtsarbeit einen Tenor, der die derzeitige intensive Beschäftigung mit der DRG-Problematik in der deutschen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik nicht angemessen wiedergibt. Der interessierte, aber mit dem aktuellen Diskussionsstand nicht so vertraute Leser könnte den Eindruck gewinnen, dass in der Psych-PV heute nur noch ein anachronistisches Bollwerk gegen anbrandende ökonomische Sachzwänge zu sehen sei. Die Repräsentanten der bestehenden Versorgungsstrukturen für psychisch Kranke in Deutschland scheinen, so könnte er weiter schlussfolgern, sich dahinter unflexibel zu verschanzen und wenig Neigung zu verspüren, an der systematischen Entwicklung von Klassifikationssystemen für Fallgruppen auch im Bereich der psychischen Störungen mitzuwirken. Folgerichtig müsste die Auseinandersetzung mit der DRG-Einführung von methodisch in der Versorgungsforschung versierten Arbeitsgruppen etwa aus dem Fach der Medizinischen Psychologie übernommen werden.

Solche Eindrücke, sollten sie sich in der Tat bei der Lektüre des Beitrags von Andreas u. Mitarb. aufdrängen, wären jedoch verfehlt. Schon seit geraumer Zeit wird die DRG-Problematik beispielsweise innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPPN) oder auch in der mit der Fortschreibung der Psychiatriereform befassten „Aktion psychisch Kranke” von ausgewiesenen Experten in spezialisierten Arbeitsgruppen diskutiert. Dabei gilt die Psych-PV als ein bestens bewährter und auch nach wie vor sehr fortschrittlicher Maßstab, an dem sich jedes neue pauschalierende Entgeltsystem messen lassen müsste, bevor es erfolgversprechend in die deutschen psychiatrisch-psychotherapeutisch-psychosomatischen Versorgungsstrukturen eingeführt werden könnte. Insbesondere die in der Psych-PV maßgeblich definierte Qualitätsanforderung, ein möglichst eigenständiges Leben außerhalb von Institutionen zu verwirklichen, die mit ihrer Ausdifferenzierung für den komplementären Bereich sich verbindende Zielsetzung einer personenzentrierten, integrierten Versorgung und die Aufnahmemöglichkeit von unterschiedlichen Disease-Management-Modellen stellen Vorteile dar, die auf jeden Fall gewahrt bleiben sollten. Es mag zwar zutreffen, dass sich dieses speziell für die Versorgung psychisch Kranker entwickelte Entgeltsystem hinsichtlich der darin berücksichtigten Behandlungsgruppen und Schweregrade vergleichsweise wenig differenziert ausnimmt und empirische Überprüfungen größeren Stils durch die Versorgungsforschung noch nicht durchgeführt worden sind. Die eben genannten Vorteile hat aber keines der existierenden DRG-Systeme und auch keiner ihrer bisherigen Anwendungsversuche auf die Versorgungsnotwendigkeiten psychisch Kranker bislang auch nur ansatzweise zu bieten. Deshalb stellt man sich in den Arbeitsgruppen durchaus zu Recht die Frage, ob Konzeptionen eines Klassifikationssystems für Fallgruppen in der Versorgung psychisch Kranker, die nicht hinter das Niveau der Psych-PV zurückfallen, überhaupt möglich sind. Genauso werden aber auch Vorbereitungen für die empirische Überprüfung möglicherweise gut auf die deutsche Versorgungssituation übertragbarer DRG-Versionen wie etwa der leistungsorientierten Krankenhausfinanzierung (LKF) in Österreich getroffen oder Überlegungen zur Verknüpfungsmöglichkeit der Psych-PV mit Falldefinitionen und anderen Weiterentwicklungsperspektiven zu einem optimierten Alternativsystem angestellt.

Wie für viele gerade der ökonomisch bedeutsamsten neurologischen Erkrankungen gilt natürlich auch für die Patienten mit psychischen Störungen, dass sie sich in hoher Zahl fehl platziert in unterschiedlichen Abteilungen und Kliniken der somatischen Medizin befinden. Zudem sind bundesweit bereits erste Tendenzen erkennbar, dort infolge der DRG-Finanzierung nicht mehr belegbare Betten noch zusätzlich mit psychisch Kranken aufzufüllen. Dem wäre in der Zukunft verstärkt dadurch entgegen zu wirken, dass psychiatrische Haupt- oder Nebendiagnosen auch in somatischen Abteilungen und Kliniken grundsätzlich nur von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie gestellt werden dürfen. Die absehbare Konsequenz bestünde in einem Zustrom solcher „Fehllieger” in die psychiatrischen Versorgungsstrukturen, die sich in Anbetracht der Größenordnung dieses Problem in der so genannten Konvergenzphase der DRGs darauf erst hinlänglich vorbereiten müssten. Gefahren der drastischen Reduktion oder gar allmählichen Auflösung in konsiliarische Betätigungsformen, wie sie neurologischerseits befürchtet werden, sind wohl für die stationäre psychiatrische Versorgung von der Einführung der DRGs in die Körpermedizin vorerst nicht zu erwarten. Es gibt aber allen Anlass, die Entwicklung in der jetzt angelaufenen Erprobungsphase genauestens zu verfolgen und sich in allen zuständigen Gremien intensiv auf die Herausforderungen vorzubereiten, die der Übergang zu einem neuen Vergütungssystem zweifellos für die psychiatrisch-psychotherapeutisch-psychosomatischen Versorgungsstrukturen mit sich bringen wird. Die Entscheidung darüber, ob die Psych-PV als unverzichtbares Korrektiv beizubehalten, ob sie als Alternative weiterzuentwickeln oder ob sie durch ein spezialisiertes DRG-System zu ersetzen ist, sollte baldmöglichst erfolgen. Nur dann bliebe Zeit genug, die fachlich begründete Option durch umfassende Versorgungsforschung empirisch zu fundieren und argumentativ so überzeugend abzusichern, dass sie den Härten der gesundheitsökonomischen Diskussion standhalten kann. Nichts wäre so fatal wie die Einführung ungeprüfter Provisorien, die leicht eine Eigendynamik bekommen und schließlich auch, wenn sie die Versorgungssituation der psychisch Kranken in Deutschland dramatisch verschlechtern sollten, nicht mehr revidierbar sind.

Literatur

  • 1 Andreas S, Dirmaier J, Koch U, Schulz H. DRG-Systeme in der Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen. Zur Konzeption eines Klassifikationssystems für Fallgruppen.  Fortschr Neurol Psychiat. 2003;  71 234-242

Prof. Dr. J. Klosterkötter

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Universität zu Köln

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50924 Köln

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