Zentralbl Gynakol 2002; 124(10): 461-464
DOI: 10.1055/s-2002-38915
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Staatsziel Tierschutz - Konsequenzen für die Forschung

Animal Protection as National Objective - Consequences for ResearchT. M. Spranger1
  • 1Universität Bonn
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Publication Date:
24 April 2003 (online)

Nachdem in den vergangenen Jahren mehrere Anläufe unternommen wurden, den Tierschutz verfassungsrechtlich zu verankern, konnten sich die Befü rworter dieses Vorhabens nun schließlich durchsetzen. Im Gegensatz zu früheren Formulierungsvorschlägen - wie etwa „Tiere werden als Mitgeschöpfe geachtet” - nimmt sich die neue „Staatszielbestimmung Tierschutz” vergleichsweise unscheinbar aus. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Tierschutzes findet sich nicht etwa in einer eigenstä ndigen Verfassungsbestimmung; vielmehr wurde lediglich Art. 20 a GG, der vor gut acht Jahren als „Staatszielbestimmung Umweltschutz” in das Grundgesetz aufgenommen wurde, um einen entsprechenden Zusatz ergänzt. Die Norm lautet jetzt: „ Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.” Neu ist an dieser Formulierung lediglich die Einfügung der drei Worte „ und die Tiere”.

Gleichwohl sollte sich die Wissenschaft von diesem zurückhaltenden Auftreten nicht täuschen lassen. Rechtsdogmatisch bedeutet die Aufwertung des Tierschutzes zum Staatsziel einen Quantensprung. Bislang zeigte sich die tierschutzrechtliche Lage wie folgt: Tierversuche im Bereich der Wissenschaft genossen den Schutz der Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Der Tierschutz war hingegen nicht in der Verfassung, sondern nur im unterverfassungsrechtlichen (und damit: einfachrechtlichen) Tierschutzgesetz verankert. Konfliktfälle zwischen Forscherinteresse und Tierschutzbelangen wurden vor diesem Hintergrund zumeist im Sinne der Wissenschaft entschieden. Nach der Novelle des Art. 20 a GG genießen wissenschaftliche Tierversuche zwar auch weiterhin verfassungsrechtlichen Schutz; der Tierschutz wurde aber von der Ebene des einfachen Rechts auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben. Diese Aufwertung bewirkt, dass sich in den beschriebenen Konfliktfällen zwei Verfassungsgüter gegenüberstehen, die gegeneinander abgewogen werden müssen.

In der Tat haben die Befürworter eines umfassenderen Tierschutzes regelmäßig auf die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Verankerung hingewiesen, um so den regelmäßigen Vorrang der Wissenschaftsfreiheit auszuhebeln[1]. Mit Blick auf diese Motivationslage kann folglich kaum davon ausgegangen werden, dass der neue Art. 20 a GG lediglich ein Schattendasein als „moralisches Feigenblatt ” führen wird. Vielmehr war es seit jeher das erklärte Ziel der Befürworter einer Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz, das verfassungsrechtliche Koordinatensystem gänzlich neu zu justieren. Somit deutet alles darauf hin, dass dem Staatsziel Tierschutz erhebliche Bedeutung für die Zukunft wissenschaftlich motivierter Tierversuche beizumessen ist.

Neueste Stellungnahmen aus dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum machen deutlich, welche Gefahr der Wissenschaft droht. So ist etwa mit Blick auf § 10 Abs. 1 S. 2 Tierschutzgesetz die Rede davon, dass der neue Art. 20 a GG „künftig eine eigenständige Auslegungspraxis im Hinblick auf Eingriffe an Tieren zu Lehrzwecken eröffnen” dürfte[2]. Auch und vor allem soll sich nun für Behörden und Gerichte die Möglichkeit ergeben, Tierversuche wegen Fehlens der „Unerlässlichkeit” oder der „ethischen Vertretbarkeit” im Sinne von § 7 Abs. 2 und 3 des Tierschutzesgesetzes nicht zu genehmigen bzw. zu untersagen[3].

Zwar sollen die nach § 15 Abs. 1 S. 2 Tierschutzgesetz vorgesehenen Kommissionen auch weiterhin für eine sachliche Unterstützung der zuständigen Behörden sorgen. Insoweit stellt sich jedoch zum einen die Frage, ob und in welcher Weise Art. 20 a GG die Arbeit der so genannten „§ 15-Kommissionen” beeinflussen wird. Zum anderen bleibt abzuwarten, ob die zuständigen Behörden nicht vor dem Hintergrund der neuen Staatszielbestimmung auf eine restriktivere Praxis drängen werden.

Damit besteht die konkrete Gefahr einer völligen Neuausrichtung des Tierversuchsrechts an den allzu unspezifischen Vorgaben des Art. 20 a GG. Die genauere Betrachtung der neuen verfassungsrechtlichen Konfliktlage muss jedoch zu einem anderen Ergebnis gelangen, das die verfassungsrechtliche Aufladung des Tierschutzes zumindest im Bereich der wissenschaftlich durchgeführten Tierversuche als untauglichen Versuch einer Unterminierung der Wissenschaftsfreiheit entlarvt.

Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht stellt das Grundgesetz kein homogenes Gefüge absolut gleichrangiger Normen dar. Zwar nimmt die Verfassung im nationalen Normengefüge den höchsten Rang ein; innerhalb des Grundgesetzes existieren jedoch deutliche Abstufungen von überragend wichtigen Normen hin zu weniger wichtigen Detailbestimmungen. Neben den prinzipiell besonders wichtigen Grundrechten, die auf die Sicherung individueller Freiheitsräume zielen, finden sich so etwa auch bloße Organisationsbestimmungen oder Verfahrensvorschriften. Sogar innerhalb des Grundrechtsabschnittes des Grundgesetzes zeigen sich deutliche Unterschiede bei der Gewichtung. So ist etwa unstreitig, dass die über Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG gewährte Menschenwürde das höchste Gut der Verfassung darstellt. Ebenfalls ü berragende Bedeutung wird etwa der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 1. Alt GG beigemessen, weil diese für die freiheitlich demokratische Grundordnung geradezu konstituierend ist. Hingegen genießen andere Grundrechte - wie beispielsweise die Kunstfreiheit - zwar ebenfalls verfassungsrechtlichen Schutz; im Falle der Kollision mit höherrangigen Freiheitsgarantien müssen sie jedoch regelmäßig zurückstehen. Art. 20 a GG erweist sich vor diesem Hintergrund allenfalls als „Mittelgewicht”, da es sich um eine Norm handelt, die verfassungsdogmatisch als so genannte Staatszielbestimmung qualifiziert wird.

Staatszielbestimmungen definieren lediglich in allgemeiner Form bestimmte Staatsaufgaben, die - anders als die Grundrechte - nicht als unmittelbar gerichtlich verfolgbare subjektiv-rechtliche Ansprüche wirken[4]. Sie umreißen nur ein bestimmtes Programm der Staatstätigkeit und sind dadurch nur eine Richtlinie oder Direktive für das staatliche Handeln[5]. Staatszielbestimmungen sind folglich mehr als völlig unverbindliche Programmsätze, jedoch deutlich weniger als subjektive Rechtspositionen[6]. Diese schwächere Ausgestaltung der Staatszielbestimmung darf bei der Bewertung des verfassungsrechtlichen Tierschutzes nicht außer Betracht bleiben. Unstreitig dürfte sein, dass Art. 20 a GG künftig bei der Abwägung der verschiedenen Belange im Rahmen wissenschaftlicher Tierversuche zu berücksichtigen sein wird. Die entscheidende Frage lautet jedoch, welches Gewicht Art. 20 a GG im Rahmen dieses Abwägungsprozesses beigemessen werden muss.

Die Antwort auf diese Frage muss die Analyse von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG als verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt der Wissenschaftsfreiheit (mit ihren Teilelementen Forschung und Lehre) geben. Mit anderen Worten: Für den Fall, dass die Wissenschaftsfreiheit im Normengefüge des Grundgesetzes deutlich höher angesiedelt ist, muss dieser Umstand auch im Falle einer Abwägung mit Art. 20 a GG Berücksichtigung finden.

Im Vergleich zur recht blassen und ohnedies vage formulierten Staatszielbestimmung Tierschutz erweist sich die Wissenschaftsfreiheit als facettenreicher und „qualitativ höherwertig”: Zunächst räumt Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG als klassisches Freiheitsrecht dem betroffenen Forscher ein subjektiv-rechtliches Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe ein. Darüber hinaus weist die Bestimmung auch eine objektiv-rechtliche Dimension auf, die auf den Schutz der Freiheit der Wissenschaft als autonomer und eigengesetzlicher Lebensbereich zielt. Ferner enthält die Bestimmung eine objektive Wertentscheidung, welche die Freiheit, Pflege und Förderung der Wissenschaft sicherstellt. Schließlich wird mit Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG institutionsrechtlich die Garantie der wissenschaftlichen Hochschule und ihrer Selbstverwaltung gegeben[7]. Von besonderer Bedeutung für den Konflikt mit Art. 20 a GG ist sicherlich das subjektive Recht des Forschers.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in zahlreichen Entscheidungen zur Bedeutung dieses individuellen Elements der Wissenschaftsfreiheit geäußert. In grundlegender Weise heißt es: „Das in Art. 5 Abs. 3 GG enthaltene Freiheitsrecht schützt als Abwehrrecht die wissenschaftliche Betä tigung gegen staatliche Eingriffe und steht jedem zu, der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will [. . .]. Dieser Freiraum des Wissenschaftlers ist grundsätzlich [. . .] vorbehaltlos geschützt [. . .]. In ihm herrscht absolute Freiheit von jeder Ingerenz öffentlicher Gewalt. In diesen Freiheitsraum fallen vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei dem Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe. Jeder, der in Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist, hat [. . .] ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Damit sich Forschung und Lehre ungehindert an dem Bemühen um Wahrheit als „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes” (Wilhelm von Humboldt) ausrichten können, ist die Wissenschaft zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt worden. Damit ist zugleich gesagt, dass Art. 5 Abs. 3 GG nicht eine bestimmte Auffassung von der Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie schützen will. Seine Freiheitsgarantie erstreckt sich vielmehr auf jede wissenschaftliche Tätigkeit, d. h. auf alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist. Dies folgt unmittelbar aus der prinzipiellen Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis.”[8]

Von besonderer Relevanz für den zu beurteilenden Konflikt zwischen Tierschutz und Wissenschaftsfreiheit dürften die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum „vorbehaltlosen Freiraum” und zum „von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers” sein. Soll dieser Freiraum auch weiterhin gewährleistet sein, so kann es nicht angehen, fachfremde Dritte im Rahmen tierschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren auf Basis vager Wertvorstellungen über die Zulässigkeit wissenschaftlicher Versuche entscheiden zu lassen.

Vielmehr setzt der vom Bundesverfassungsgericht als unabdingbares Wesenselement der Wissenschaftsfreiheit vorausgesetzte Freiraum des Forschers grundsä tzlich die Befugnis voraus, eigenverantwortlich und autonom über die von ihm auszuwählenden Arbeitsmethoden zu entscheiden. Staatliche Einschnitte und Vorgaben in diesem Bereich tangieren nicht etwa den Randbereich der grundrechtlichen Garantie, sondern den Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit. Die Freiheit der Forschung umfasst in diesem Sinne zweifellos auch das Recht, sich für Arbeitsmethoden zu entscheiden, die nicht allgemein gutgeheißen werden.

Für den hiermit zu statuierenden Vorrang der fundamentalen Grundrechtsgarantie aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gegenüber der bloßen Staatszielbestimmung Tierschutz aus Art. 20 a GG spricht darüber hinaus der unklare Regelungsgehalt der neuen Bestimmung. Die Gesetzesbegründung formuliert den über Art. 20 a GG angestrebten Standard als „ethischen Tierschutz”[9] und springt damit auf den derzeitigen Trend einer „ethischen Etikettierung” auf. In der Tat erlebt die Ethik eine Renaissance[10]: Ethikkommissionen werden bundesweit in großer Zahl gegründet11 und die so genannte „Bioethik” etabliert sich als selbständiger Wissenschaftszweig. Die Qualifizierung des Tierschutzes als „ethischer Belang” umgibt diesen folglich mit dem Nimbus des Lauteren. Am Ergebnis freilich ändert sich hierdurch nichts: Der Tierschutz bleibt primär einfachrechtlich verankert und konkretisiert. Die verfassungsrechtliche Bestimmung des Art. 20 a GG wertet den Tierschutz lediglich allgemein und in einer Weise auf, wie sie für den Kern der Wissenschaftsfreiheit - entgegen anderslautender Einschätzungen - ohne Bedeutung sein muss.

Der Einwand, dass mit diesem Verständnis die Staatszielbestimmung Tierschutz ihrer zentralen Bedeutung beraubt werden würde, mag aus Sicht der Befürworter von Art. 20 a GG begründet sein. Indes lässt sich dieser Kritik entgegnen, dass dem verfassungsrechtlichen Tierschutz auch bei weitgehender Ausblendung wissenschaftlicher Tierversuche genügend Anwendungsbereiche verbleiben: So wird in der Gesetzesbegrü ndung explizit darauf hingewiesen, dass die verfassungsrechtlich angestrebte Achtung vor dem Tier vor allem auf den Schutz vor nicht artgemäßer Haltung und vermeidbaren Leiden sowie vor Zerstörung ihrer Lebensräume zielt. Die genannten Ziele lassen sich jedoch auch dann nahezu uneingeschränkt verwirklichen, wenn man dem hier vertretenen Ansatz eines prinzipiellen Vorrangs der Wissenschaftsfreiheit folgen will.

1 Siehe i. e. die Nachweise bei: Spranger, Auswirkungen einer Staatszielbestimmung „Tierschutz” auf die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2000, 285 (286)

2 Caspar/Geißen, Das neue Staatsziel „Tierschutz” in Art. 20 a GG, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2002, 913 (916).

3 Caspar/Geißen, aaO. S. 915.

4 Dreier, in: ders. (Hrsg), Grundgesetz, Band I, 1996, Vorb. Rn. 42.

5 Der Bundesminister des Innern/Der Bundesminister der Justiz (Hrsg), Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, Rn. 7.

6 Murswiek, in: Sachs (Hrsg), Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 20 a Rn. 12.

7 Vgl. Spranger, Auswirkungen einer Staatszielbestimmung „Tierschutz” auf die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, in: ZRP 2000, 285 (286) mwN; ders., Tierschutz contra Forschungsfreiheit - Welche Folgen hat die Grundrechtsänderung für die Forschung?, in: Forschung & Lehre 2002, 596 ff.

8 BVerfGE 35, 79 (112 f.).

9 Bundestags-Drucksache 14/8860, S. 3.

10 Dies gilt in besonderem Maße für den Bereich bio- und gentechnologischer Anwendungen; hierzu: Spranger, Ethical Aspects of Patenting Human Genotypes According to EC Biotechnology Directive, in: International Review of Industrial Property and Copyright Law 2000, 373 ff.; ders., Legal Status and Patentability of Stem Cells in Europe, in: Biotechnology Law Report 2002, 105 (111 f.).

11 Kritisch hierzu: Isensee, Der grundrechtliche Status des Embryos - Menschenwürde und Recht auf Leben als Determinanten der Gentechnik, in: Höffe/Honnefelder/Isensee/Kirchhof (Hrsg), Gentechnik und Menschenwürde - An den Grenzen von Ethik und Recht, 2002, S. 37 (40).

Dr. jur. Dr. rer. pol. T. M. Spranger

Institut für öffentliches Recht

Abteilung Verwaltungsrecht

Universität Bonn

Adenauerallee 24-42

53113 Bonn

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