Zentralbl Gynakol 2002; 124(8/9): 434-439
DOI: 10.1055/s-2002-38124
Kasuistik

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Patientinnen als „lebendige Phantome”? Das Entbindungshospital der Universität Göttingen um 1800

Patients as “Living Manikins”? Göttingen University's Maternity Hospital ca. 1800J. Schlumbohm1
  • 1Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen
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Publication Date:
24 March 2003 (online)

Zusammenfassung

Das 1751 gegründete Göttinger Entbindungshospital gilt als das weltweit erste, das Teil einer Universität war. In erster Linie sollte es der Ausbildung von Studenten und Ärzten dienen, daneben der Unterrichtung von Hebammen; außerdem war es dazu bestimmt, Not leidenden Frauen am Ende der Schwangerschaft, während und nach der Geburt einen sicheren Aufenthalt zu gewähren. Daher stand es Gebärenden ohne Ansehen der Staatsangehörigkeit, Hautfarbe und Religion offen. Tatsächlich waren die Patientinnen fast alle unverheiratet und entstammten überwiegend den unteren sozialen Schichten. Aufgrund gedruckten und archivalischen Materials zeigt der Aufsatz, insbesondere für die Amtszeit von Professor Friedrich Benjamin Osiander (d. i. 1792-1822), in welcher Weise diese Patientinnen für die Entfaltung und Lehre einer ärztlichen Entbindungswissenschaft und -kunst gebraucht wurden.

Abstract

The maternity hospital in Göttingen, founded in 1751, is considered to be the first in the world which was part of a university. Its main purpose was to train male medical students. Secondary aims were to instruct female midwives and to provide a haven for poor pregnant and lying-in women. The hospital was open to all women, without discriminating against foreigners, or any religion or race. Almost all patients were not married, and the overwhelming majority were servants. This article makes use of printed as well as archival material, mainly from the period when Professor Friedrich Benjamin Osiander was the hospital's director, i. e. 1792-1822, in order to show how the patients were used for developing and teaching ‘scientific’ obstetrics and man-midwifery.

Literatur

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  • 6 Wehl H. Geburtshilfe. (Anm. 1), Anhang
  • 7 Lichtenberg G C. An Johann Daniel Ramberg, 3.4.1786. In: Lichtenberg GC. Briefwechsel, (Hrsg) Joost U, Schöne A, Bd. 3, München 1990, S. 181: „Ferner ist man jetzt willens, einen Accouchier-Palast zu bauen, aber die Experimental-Physik, die doch die Basis von so vielen dem Staat nützlichen Kenntnissen ist, die eine der edelsten Beschäftigungen des Geistes für alle Stände gewährt, wird so ganz vergessen.” - Bei Quellenzitaten bleibt der Lautstand gewahrt, während Orthographie und Interpunktion dem modernen Gebrauch angeglichen werden
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  • 10 Beschreibung des Gebäudes und seiner Funktion:. ebd. S. LII ff., zit. S. LIV, LXIX; ähnlich Pütter JS: Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen, Bd. 2, Göttingen 1788, 259 ff., zit. 260 f., sowie Bd. 3 (fortgesetzt von Friedrich Saalfeld), Göttingen 1820, 453 ff
  • 11 Wehl H. Geburtshilfe. (Anm. 1), Anhang
  • 12 Ross I C. Public virtue, public love. The early years of the Dublin lying-in hospital. The Rotunda, Dublin 1986; DeLacy M: Puerperal fever in 18th- century Britain, in: Bulletin of the history of medicine 63 (1989) 521-556, hier 545; Beauvalet-Boutouyrie S: Naître à l'hôpital au XIXe siècle, Paris 1999; Fischer I: Geschichte der Geburtshilfe in Wien, Leipzig usw. 1909, 194, 485 ff
  • 13 Osiander F B. Denkwürdigkeiten. (Anm. 9), Bd. 1,1, 1794, S. XC
  • 14 Sie befinden sich im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen. Ausgewertet wurden bisher die ersten beiden Bände, die die Jahre 1791-1812 bzw. 1813-1829 umfassen. Des Weiteren wurden die erhaltenen „Tagebücher” des Göttinger Entbindungshospitals benutzt, die sich ebenfalls dort befinden. Der Direktorin des Instituts, ihren Vorgängern sowie dem Direktor der Universitäts-Frauenklinik Göttingen sei herzlich für die großzügige Möglichkeit zur Benutzung der archivalischen Quellen gedankt. - Detailliertere Auswertungen bei Schlumbohm: Verheiratete (Anm. 1), 328 ff
  • 15 Seidel H C. Eine neue „Kultur des Gebärens”. Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart 1998, 164 ff.; Metz-Becker M: Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main usw. 1997; Pawlowsky V: Ledige Mütter als „geburtshilfliches Material”, in: Comparativ 3,5 (1993), 33-52; Beauvalet-Boutouyrie: Naître (Anm. 12), 240; Cavallo S: Charity and power in early modern Italy. Benefactors and their motives in Turin, 1541-1789, Cambridge 1995, 199 ff. Hingegen nahmen einige Hospitäler in London keine ledigen Gebärenden auf, s. Donnison J: Midwives and medical men. A history of inter-professional rivalries and women's rights, London 1977, 26; Wilson A: The making of man-midwifery. Childbirth in England 1660-1770, London 1995, 146 f
  • 16 Sachße C, Tennstedt F. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 1, Stuttgart usw. 1980, 110 f
  • 17 Osiander F B. Denkwürdigkeiten. (Anm. 9) Bd. 1,1, 1794, S. XCI. Vgl. Brockmann J-L: Friedrich Benjamin Osianders Bericht „Über die Ursachen, warum so viele uneheliche und verlassene Kinder von Zeit zu Zeit der Stadt Göttingen zur Last fallen”, in: Göttinger Jahrbuch 30 (1982) 161-180; Meumann M: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution Bd. 29), München 1995, 199 f
  • 18 Osiander F B. Annalen der Entbindungs-Lehranstalt auf der Universität zu Göttingen vom Jahr 1800 [...],. Bd. 1,1, Göttingen 1800, S. XIV
  • 19 Beauvalet-Boutouyrie S. Die Chef-Hebamme. Herz und Seele des Pariser Entbindungshospitals von Port-Royal im 19. Jahrhundert. In: Schlumbohm J u.a. (Hrsg), Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München 1998, 221-243; Pawlowsky V: Trinkgelder, Privatarbeiten, Schleichhandel mit Ammen. Personal und Patientinnen in der inoffiziellen Ökonomie des Wiener Gebärhauses 1784-1908, in: ebd., 206-220
  • 20 Osiander F B. Denkwürdigkeiten. (Anm. 9), Bd. 1,1, 1794, S. CX f
  • 21 Osiander F B. Annalen. (Anm. 18), Bd. 1,1, S. X ff.; ders.: Denkwürdigkeiten. (Anm. 9), Bd. 1,1, S. CVI ff., auch zum Folgenden
  • 22 Seidel H C. Kultur. (Anm. 15), 286 ff
  • 23 Osiander F B. Denkwürdigkeiten. (Anm. 9), Bd. 1,1, S. LXXXIX
  • 24 Wenn Osiander mehr als 30 Hörer hatte, teilte er sie in zwei Gruppen, die abwechselnd zu den Geburten gerufen wurden. 
  • 25 Osiander F B. Denkwürdigkeiten. (Anm. 9), Bd. 1,1, 1794, S. CXII f. Hervorhebung im Original. Osiander zitiert und kritisiert hier seinen Gegner Boër, s. Schlumbohm J: „Die edelste und nützlichste unter den Wissenschaften”. Praxis der Geburtshilfe als Grundlegung der Wissenschaft ca. 1750-1820, in: Bödeker HE u. a. (Hrsg), Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750-1900, Göttingen 1999, 275-297, hier 290, 292 ff
  • 26 Honegger C. Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt/M. 1991; Jordanova L: Sexual visions. Images of gender in science and medicine between the 18th and 20th centuries, New York 1989, bes. 19 ff., 43 ff.; Duden B: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987, 34 ff.; Daston L: The naturalized female intellect, in: Science in Context 5,2 (1992) 209-235
  • 27 Osiander F B. Handbuch der Entbindungskunst,. Bd. 1,1, Tübingen 1818, 7 f
  • 28 Seidel H C. Kultur. (Anm. 15), 148 ff
  • 29 Osiander F B. Denkwürdigkeiten. (Anm. 9), Bd. 1,1, 1794, S. CX f
  • 30 Schlumbohm J. Die Edelste. (Anm. 25), 283 f
  • 31 Fischer I. Geschichte. (Anm. 12), 198
  • 32 Schlumbohm J. Die Edelste. (Anm. 25), 292 ff
  • 33 Schlumbohm J. Der Blick des Arztes, oder: wie Gebärende zu Patientinnen wurden. Das Entbindungshospital der Universität Göttingen um 1800, in: Ders. u. a. (Hrsg), Rituale. (Anm. 19), 170-191, bes. 178 ff., 188 ff. Vgl. den Beitrag von Metz-Becker M. in diesem Band
  • 34 Wilson A. Man-midwifery. (Anm. 15), 176 ff.; ders.: The ceremony of childbirth and its interpretation. In: Fildes V (ed), Women as mothers in pre-industrial England. London 1990, 68-107; Labouvie E: Andere Umstände: Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln 1998, bes. 103 ff.; Seidel, Kultur (Anm. 15), 414 ff
  • 35 Osiander F B. Denkwürdigkeiten. (Anm. 9), Bd. 1,1, 1794, S. CIX f
  • 36 Seidel H C. Kultur. (Anm. 15), 290
  • 37 Freund H W. Die Entwickelung der deutschen Geburtshülfe aus der Hebammenkunst. In: Klinisches Jahrbuch 3 (1891), 32-80, hier 71
  • 38 Foucault M. Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973, 98 ff.; vgl. Frevert U: Krankheit als politisches Problem 1770-1880, Göttingen 1984, 80 f.; Huerkamp C: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, Göttingen 1985, 41 f

Prof. Dr. phil. Jürgen Schlumbohm

Max-Planck-Institut für Geschichte

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