Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2002; 12(6): 315-316
DOI: 10.1055/s-2002-36190
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Manuelle Medizin und Osteopathie in Deutschland - Versuch einer Standortbestimmung vor der Novellierung der Weiterbildungsordnung

Manual Medicine and Osteopathy in Germany - An Attempt to Define the Position before Amending the System of Further EducationJ.  Buchmann
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Publication History

Eingegangen: 10. April 2002

Angenommen: 5. September 2002

Publication Date:
17 December 2002 (online)

Die Physikalische und Rehabilitative Medizin (PRM) und die Orthopädie sind in der Weiterbildungsordnung der BÄK als Gebiete mit definierten Inhalten verankert, die Chirotherapie als fachübergreifende Bereichsbezeichnung. Der Begriff manuelle Medizin (engl. „manual medicine”) ist sowohl im deutschsprachigen Raum als auch international recht einheitlich gefasst. Das pathophysiologische Substrat der „Manuellen Medizin” ist die Funktionsstörung beweglicher Strukturen des menschlichen Körpers. Gegenwärtig werden unter „Osteopathie” die verschiedensten Inhalte verstanden, oftmals von Nichtärzten propagiert. Der Begriff der „Manuellen Medizin” existiert innerhalb der ärztlichen Weiterbildungsordnung noch nicht, seine auch inhaltliche Fassung wird aber innerhalb der nächsten Novellierung der Weiterbildungsordnung angestrebt. Was ist nun das Gemeinsame dieser Bezeichnungen?

Die Orthopädie wird an den Ausbildungskliniken überwiegend operativ gelehrt und sie versteht sich zunehmend als operierendes Fach. Im klinischen Alltag ist jedoch eine Vielzahl von Patienten zu versorgen, die Funktionsstörungen und/oder Schmerzen im Bewegungssystem aufweisen und bei denen operative Interventionen nicht indiziert sind. Immer wieder wird beklagt, dass in der Ausbildung zum Facharzt für Orthopädie auf diese Patienten zu wenig eingegangen wird. Die PRM beschäftigt sich zu großen Teilen mit dem menschlichen Bewegungssystem und kennt und beschäftigt sich mit Methoden, die Beurteilung und Beeinflussung gestörter Funktionszustände menschlicher Gewebe erlauben. Dazu bedient sie sich auch einer Reihe von manuellen Techniken wie z. B. der Massage. Die Methoden für Diagnostik und Therapie von Funktionsstörungen des Bewegungssystems sind jedoch oftmals der klassischen-konservativen Orthopädie entlehnt.

Seit den 60er-Jahren existiert in Deutschland die Weiterbildung „Chirotherapie”, in der eine manuelle Diagnostik und Therapie des menschlichen Bewegungssystems vermittelt wird und die die konservativ-orthopädische sowie die physikalisch-rehabilitative Diagnostik und Therapie wesentlich erweitert. Das pathophysiologische Substrat dieser „Manuellen Medizin” ist die Funktionsstörung beweglicher Strukturen des menschlichen Körpers, ihr hauptsächliches diagnostisches und therapeutisches Instrument ist die Hand des Behandlers. Ihr Denkgebäude entstand aus dem Bedürfnis heraus, tastbare Spannungsveränderungen und Beweglichkeitseinschränkungen verschiedener menschlicher Gewebe zu erklären und in Beziehung zur Klinik des Patienten zu setzen. Primär auf das menschliche Bewegungssystem orientiert, bezieht differenzialdiagnostisches manualmedizinisches Denken strukturelle und funktionelle Störungen anderer Systeme wie Viszera oder Nervensystem einschließlich Psyche ein, kennt aber für diese Strukturen wesentlich weniger diagnostische und therapeutische Techniken im Vergleich zum Bewegungssystem.

Nun wird seit längerem u. a. in Deutschland von verschiedenen Berufsgruppen eine „neue Art” Manuelle Medizin propagiert - die so genannte Osteopathie, bezugnehmend auf das Mutterland der Osteopathie, die USA. Dazu sei festgestellt, dass es weder in Deutschland noch in den USA eine „osteopathische Medizin” mit einem einheitlichen Krankheitsmodell gibt. Die drei großen Bereiche „parietale Osteopathie”, „viszerale Osteopathie” und „kraniosakrale Osteopathie”, die heute in Deutschland oft einfach unter „osteopathischer Medizin” subsumiert werden, entstanden weitestgehend unabhängig voneinander und haben teilweise verschiedene Denk- und Erklärungsansätze. Einige Beispiele: Der kraniosakrale Rhythmus soll anderer Herkunft als die Motilität innerer Organe sein, Triggerpunkte kennen viele osteopathische Schulen nicht, Counterstrain-Methoden entstanden unabhängig von myofaszialen Releasetechniken usw. usf. Im Mutterland der Osteopathie, in den USA, werden viele Techniken nach ihrem Erstbeschreiber benannt, „Greenman-Techniken” also von „Mitchell-Techniken” unterschieden. Der Begriff „parietale Osteopathie” ist in den USA kaum gebräuchlich, eine Reihe osteopathischer Colleges lehren „Sutherland-Techniken” (= kraniosakrale Osteopathie) nicht. Viszerale Techniken wurden von Littlejohn und von osteopathisch Tätigen in Frankreich und den Beneluxländern entwickelt. Sie sind meist nur in geringem Ausmaß Bestandteil der meisten Ausbildungsgänge mit osteopathischen Techniken in den USA oder Europa. Im „Lehrbuch der osteopathischen Medizin” von Greenman ist nicht eine einzige viszerale Technik aufgeführt, findet sich kein Hinweis auf eine „viszerale Osteopathie”. Eine einheitliche Osteopathie gibt es also nicht, ihre hauptsächlichen Wurzeln stammen aus den USA und Europa.

Die exemplarisch genannten Techniken der „Osteopathie” können uns jedoch viel Neues bringen und bedeuten eine Erweiterung der etablierten Techniken der Manuellen Medizin. Diese Techniken sind das Besondere der Osteopathie und nicht ihre oftmals überbetonte Philosophie. Die Diagnostik und Behandlung von Beweglichkeitseinschränkungen oder Spannungserhöhungen bzw. -abschwächungen von Suturen, von Aufhängungen innerer Organe oder von Faszien sowie das Counterstrain-Konzept sind nicht nur eine wirkliche Bereicherung der Manuellen Medizin in Deutschland, sondern der Medizin überhaupt. Das den manualmedizinischen Diagnosen und Therapiekonzepten zugrunde liegende Krankheitsmodell ist in Deutschland im Konsens mit schulmedizinischen Denkmodellen, es benötigt jedoch ebenso eine ständig zu erweiternde evidenzbasierte Grundlage. Bloße Erfahrungen, Überzeugungen und Einzellfallberichte reichen nicht aus. Die universitäre Präsenz der Manuellen Medizin ist gering; Manuelle Medizin wird überwiegend in der Praxis betrieben und weiterentwickelt. Es ist allerdings auf nationaler und internationaler Ebene gelungen, die wissenschaftliche Basis der Manuellen Medizin zu stärken.

In der Einbeziehung osteopathischer Techniken in das manualmedizinische Denk- und Handlungsgebäude liegt einer der wesentlichen Fortschritte der letzten Jahre. Diese Techniken fügen sich nahtlos in segmentales und Verkettungsdenken, in Vorstellungen der Zusammenhänge von Bewegungs-, viszeralem und Nervensystem ein.

Die zu einer „Manuellen Medizin” erweiterte „Chirotherapie” entspricht in vielen Inhalten dem, was heute die ärztliche (!) Osteopathie ausmacht.

Wo treffen sich nun die „Manuelle Medizin/Osteopathie”, die „konservative Orthopädie” und die „Physikalische und Rehabilitative Medizin”? Am ehesten wohl am Patienten, bei der Diagnostik und Therapie von Funktionsstörungen beweglicher Strukturen des menschlichen Körpers.

Diese diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten gilt es im Rahmen der Novellierung der ärztlichen Weiterbildungsordnung in Deutschland zu bewahren, Neues zu integrieren und strukturell zu verankern. An dieser Stelle treffen sich die grundlegenden Interessen von PRM und Manueller Medizin. Derzeitig ist im Rahmen der Novellierung der Weiterbildungsordnung geplant, lediglich die Grundlagen der Manuellen Medizin innerhalb spezieller Facharztausbildungen zu lehren und eine „Bereichsbezeichnung” allerdings als „Manuelle Medizin” weiterzuführen. Das ist sinnvoll und notwendig, da die Manuelle Medizin in Deutschland mit hohem Qualitätsanspruch derzeitig an Schulen im Rahmen der DGMM (FAC, MWE, ÄMM) und der DGOM außerhalb der Facharztausbildung gelehrt wird. Diese Manuelle Medizin sollte als Synthese der bisherigen „Chirotherapie” und sinnvollen, validierten manuellen und osteopathischen Techniken verstanden werden. Ziel wäre, nicht nur in Deutschland, eine in Facharztausbildungen eingefügte Manuelle Medizin und Integration in die studentische Ausbildung.

Dr. med. Johannes Buchmann
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Chirotherapie, Psychotherapie
Mitglied der ÄMM/DGMM
Mitglied der DGOM

Der Autor dieses Beitrages ist weder Orthopäde noch FA für PRM, damit in dieser Hinsicht wenig voreingenommen; allerdings ist er überzeugter Manualmediziner und hat eine osteopathische Ausbildung.

OA Dr. med. Johannes Buchmann

Klinik für Kinderneuropsychiatrie · Zentrum für Nervenheilkunde · Universität Rostock

Gehlsdorfer Straße 20

18147 Rostock

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