Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2002; 37(12): 709-711
DOI: 10.1055/s-2002-35923
Gasteditorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Phlogiston - Feuerluft - Oxygène

Von der Entdeckung des Sauerstoffs zur medizinischen AnwendungPhlogiston - Feuerluft - OxygèneFrom the Discovery of Oxygen to its Medical ApplicationL.  Brandt1
  • 1Zentrum Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, Klinikum Wuppertal GmbH, Lehrstuhl Anästhesiologie der Universität Witten/Herdecke
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Publication Date:
05 December 2002 (online)

Die Entdeckung des Sauerstoffs im 18. Jahrhundert als der Beginn der chemischen Revolution ist ohne Zweifel eine wissenschaftliche Leistung, welche den Nobelpreis verdient hat. Es gibt dabei nur zwei kleine Probleme: Erstens wurde der erste Nobelpreis für Chemie - wie die anderen auch - erstmals im 20. Jahrhundert, um genau zu sein im Jahr 1901, vergeben. Und zweitens, wenn es den Nobelpreis bereits gegeben hätte, wer hätte ihn dann erhalten sollen, d. h. wer hat eigentlich den Sauerstoff entdeckt?

War es Carl Wilhelm Scheele (1742-1786), Apotheker im damals schwedischen Stralsund in Pommern? Er gewann das Gas zum ersten Mal im Jahr 1771 und gab ihm den Namen „Feuerluft”, machte jedoch zunächst der wissenschaftlichen Welt keine schriftliche Mitteilung darüber [9]. Erst am 30. September 1774 schrieb er einen Brief an Antoine Laurent Lavoisier in Paris, den berühmtesten Chemiker seiner Zeit, und berichtete ihm von seiner Entdeckung. Der Brief kam nie bei Lavoisier an. Erst mehr als 100 Jahre später, 1890, wurde er gefunden, versteckt in Lavoisiers wissenschaftlichem Nachlass. Eine Intrige? Wurde der Brief vielleicht durch die 16 Jahre junge Marie Anne Pierrette Paulze Lavoisier unterschlagen? Das Mädchen war Lavoisiers Ehefrau, seine Assistentin im Labor und seine Sekretärin.

Scheele wollte sein Leben lang eigentlich nur eine eigene Apotheke besitzen. Dieser Wunsch ging aber erst kurz vor seinem Tod im 45. Lebensjahr in der schwedischen Provinzstadt Köping in Erfüllung.

Wurde der Sauerstoff durch Joseph Priestley (1733-1804) entdeckt, englischer Geistlicher, politischer Aktivist und begeisterter Chemiker? Er isolierte den Sauerstoff am 1. August 1774 und publizierte seine Erfindung sofort in den „Philosophical Transactions”, dem führenden Wissenschaftsjournal jener Zeit [8]. Auch reiste er noch im Oktober des gleichen Jahres nach Paris und führte Lavoisier seine Entdeckung vor. Priestley, der übrigens auch das Lachgas und das Kohlenmonoxyd entdeckte, nannte das neue Gas „dephlogistiziertes Gas” („dephlogisticated air”); er war sein Leben lang Anhänger der so genannten „Phlogiston-Theorie” von Georg Ernst Stahl (1660-1734) aus Halle, welche besagte, dass bei einem Verbrennungsvorgang ein Stoff den brennenden Gegenstand verließe, eben „Phlogiston”, die Essenz des Feuers. Joseph Priestley war ein politischer Heißsporn. Er musste England verlassen und siedelte in die USA über, wo er mit der Unterstützung von Benjamin Franklin wieder Fuß fassen konnte. Er starb im Alter von 71 Jahren.

Oder war es doch Antoine Laurent Lavoisier (1743-1794), genialer Chemiker, Steuerbeamter und Wirtschaftsfachmann, der den Sauerstoff entdeckte, weil er erkannte, dass während des Verbrennungsprozesses etwas aus der Luft entnommen und nicht aus dem brennenden Stoff freigesetzt wird? Dieses Etwas identifizierte er im Jahr 1775 als Scheeles „Feuerluft” bzw. Priestleys „dephlogistiziertes Gas” und nannte es „Oxygène” [5]. Lavoisier fiel dem Mob der französischen Revolution zum Opfer. Im Jahr 1794 beendete die Guillotine sein Leben. Er wurde 51 Jahre alt.

Dass die Luft kein homogenes Gas sei und dass sie etwas enthielte, was essenziell ist für das tierische und menschliche Leben, war bereits ziemlich exakt 100 Jahre vor Scheele, Priestley und Lavoisier vermutet worden. Im England des 17. Jahrhunderts lebte John Mayow (1645-1679). Er wurde nur 34 Jahre alt, genügend Lebenszeit jedoch, unsterblichen Ruhm zu erlangen. John Mayow gilt neben Rene Descartes und Robert Boyle als einer der größten Physiologen des 17. Jahrhunderts. Im Jahr 1674 verfasste er eine Schrift mit dem Titel „De sale nitro et spiritu nitro-aereo”. Darin spricht er bereits seine Überzeugung aus, dass in der atmosphärischen Luft ein Bestandteil enthalten sei, welchen sie mit dem Salpeter, HNO3, gemein habe, eben der „spiritus nitro-aereus”. Dieser spiele im Körper die gleiche Rolle wie bei der Verbrennung. Er gelange durch die Atmung in die Lungen und aus diesen in das Blut, welchem er seine hellrote Farbe gebe [6]. Es war nur konsequent, dass der Übersetzer der Mayowschen Schrift am Ende des 18. Jahrhunderts schrieb: „So übersetzte ich z. B. ‚Spiritus nitro-aereus’ mit ‚Sauerstoff’, weil das luftartige Prinzip, welches Mayow durch die Verbrennung erhielt, nichts anderes als der jetzt so benannte Stoff, nach allen seinen ihm eigentümlichen Merkmalen und Gesetzen ist” [7].

Wann und auf welchem Weg kam denn nun der Sauerstoff als therapeutisches Gas in die Medizin?

Wir bleiben im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Das Zeitalter der Aufklärung neigte sich dem Ende entgegen, jene Ära, in welcher man dem Menschen sowohl als Individuum wie als Teil der Gemeinschaft einen bis dahin nicht gekannten Wert beimaß. Dies war der Boden, auf dem die Saat der Notfallmedizin aufgehen konnte. Die Erhaltung des in Gefahr geratenen menschlichen Lebens rückte in den Mittelpunkt des medizinischen Interesses [2].

Nachdem im Jahr 1740 der französische König Ludwig XV. in seinem „Avis, wie man denjenigen, welche man ertrunken zu sein glaubt, zu Hilfe kommen solle” die juristischen Grundlagen zur Erste-Hilfe-Leistung geschaffen hatte, schlossen sich mehr oder weniger alle europäischen Regierenden dieser Anordnung an. Davor war es bei Strafe verboten gewesen, einem Verunglückten Hilfe zu leisten, ehe die Obrigkeit zur Stelle war. Die Notfallmedizin erlebte ihren ersten Höhepunkt. John Hunter (1728-1793) war zu jener Zeit einer der bedeutendsten englischen Chirurgen. Wie viele seiner Zeitgenossen widmete auch er sich dem Thema der Ersten Hilfe. Im März des Jahres 1776 erschien in den „Philosophical Transactions” ein Artikel von ihm zum Thema „Proposals for the Recovery of People apparently drowned” („Vorschläge zur Wiederbelebung scheinbar Ertrunkener”). Obwohl Joseph Priestley erst vor gerade 18 Monaten seine Entdeckung publiziert hatte, empfahl Hunter nun bereits [4]: „Perhaps the dephlogisticated air, described by Dr. Priestley, may prove more efficacious, than common air. It is easily procured, and may be preserved in bottles or bladders” („Vielleicht könnte sich die von Dr. Priestley beschriebene dephlogistizierte Luft als effizienter erweisen als normale Luft. Sie ist leicht zu beschaffen und kann in Flaschen oder Beuteln aufbewahrt werden.”).

Sowohl Scheele wie auch Priestley hatten in ihren Arbeiten darauf hingewiesen, dass Tiere, welche dem neuen Gas ausgesetzt waren, wesentlich länger überlebten als diejenigen, die gewöhnliche Luft atmeten.

Die Huntersche Empfehlung machte schnell die Runde. Johann Christian Friedrich Scherff (1750-1818) aus Ilmenau, nach heutiger Nomenklatur Hygieniker und Arzt für das öffentliche Gesundheitswesen, griff sie in seiner im Jahr 1780 erschienenen „Anzeige der Rettungsmittel bei Leblosen und in plötzliche Lebensgefahr Geratenen” fast wörtlich auf und schrieb [10]: „Vielleicht würde die Luft, welche von Doktor Priestley mit dem Namen der dephlogistizierten belegt wird, mit mehr Nutzen als die gewöhnliche Luft eingeblasen werden; doch sind mir noch keine Erfahrungen darüber bekannt worden; ohngeachtet der Rath eines Hunter"s immer viel Obacht verdienet, und, nach Priestley"s Erfahrungen, die Thiere in einer solchen Luft nicht nur viel länger leben, sondern sie sich auch bey vielen Prüfungen wohl sechsmal besser, als die gemeine Luft, bewiesen hat.”

Die erste umfassendere wissenschaftliche Untersuchung zur Anwendung von Sauerstoff bei künstlicher Atmung stammt von Antony Fothergill (1735-1813) - er nannte ihn „Lebensluft”. Die englische Originalschrift erschien 1795, eine erste deutsche Übersetzung im Jahr 1796. Fothergill schreibt darin [3]: „Man hat nämlich vollen Grund, anzunehmen: Dass man gefunden hat, wie die Lebensluft, welche vom Verfasser bereits seit geraumer Zeit empfohlen wurde, der atmosphärischen oder aus der Lunge eines Dritten ausgehauchten Luft zum Behuf des künstlichen Athemholens vorzuziehen sei.” Im gleichen Jahr erschien die deutsche Übersetzung der „Betrachtungen über den medicinischen Gebrauch künstlicher Luftarten und die Methode, sie in großen Quantitäten zu bereiten” von Thomas Beddoes (1754-1808) und James Watt (1736-1819), dem Erfinder der Dampfmaschine [1]. Thomas Beddoes hatte bereits im Jahr 1793 in Bristol ein so genanntes „Pneumatisches Institut” zur Erforschung von Gasen für medizinische Zwecke gegründet. Sein berühmtester Schüler wurde Humphry Davy, der Entdecker der analgetischen Wirkung des Lachgases.

Die breite Anwendung von Sauerstoff als Therapeutikum scheiterte jedoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts an drei Problemen: Die Herstellung war entgegen Hunters Bemerkung aufwändig und kostspielig, die Lagerung und der Transport des isolierten Gases in größeren Mengen waren nicht möglich, und es fehlten regelbare Gasflussmesser zur exakten Dosierung. Seit den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts gelang es dann jedoch ein Problem nach dem anderen zu lösen: Durch das Linde-Luftverflüssigungsverfahren konnte Sauerstoff preiswert und in großen Mengen isoliert werden, die Einführung der Druckgastechnik durch die Firmen Barth und Coxeter & Son in England erlaubte Lagerung und Transport nennenswerter Mengen, und die Erfindung der Druckreduzierventile machte die rationale und reproduzierbare Dosierung des Sauerstoffs möglich.

Die in diesem Heft erscheinende, zweiteilige Arbeit „100 Jahre Sauerstofftherapie (1902-2002) - Eine medizinhistorische Neubewertung” skizziert den Weg des Sauerstoffs als Therapeutikum von der Entdeckung seiner Existenz bis in unsere Tage [11]. Besonders hervorgehoben wird darin die Rolle der Firma Dräger in Lübeck bei der Entwicklung der technischen Voraussetzungen zur Sauerstoffanwendung in der Medizin, deren „Roth-Dräger-Narkoseapparat” in diesen Tagen seinen hundertsten Geburtstag feiern kann.

Literatur

  • 1 Beddoes T, Watt J. Betrachtungen über den medicinischen Gebrauch künstlicher Luftarten und die Methode, sie in großen Quantitäten zu bereiten. Halle; in der Curtschen Buchhandlung 1796
  • 2 Brandt L. Notfallmedizin - Historische Einführung. In: Hempelmann G, Adams HA, Sefrin P (Hrsg) Notfallmedizin. Stuttgart; Georg Thieme 1999: 3-10
  • 3 Fothergill A. Neue Untersuchung über die Hemmung der Lebenskraft beym Ertrinken, Ersticken u. s. f. Leipzig; bey Friedrich Leopold Supprian 1796
  • 4 Hunter J. Proposals for the Recovery of People apparently drowned.  Philosophical Transactions. 1776;  66 412-425
  • 5 Lavoisier A L. Traité élémentaire de chimie. Paris; Cuchet 1789
  • 6 Mayow J. Tractatus quinque medico-physici. Oxonii; E Theatro Sheldoniano 1674
  • 7 Mayow J. Chemisch physiologische Schriften. Jena; bey Johann Christian Gottfried Göpferdt 1799
  • 8 Priestley J. Versuche und Beobachtungen über verschiedene Gattungen der Luft. Wien und Leipzig; bey Rudolph Gräffer 1778
  • 9 Scheele K W. Sämmtliche physische und chemische Werke. Hrsg. von SF Hermbstädt Berlin; Rottmann 1793
  • 10 Scherff J CF. Anzeige der Rettungsmittel bey Leblosen und in plötzliche Lebensgefahr Gerathenen. Altona; J.H.S. Hellmann 1780
  • 11 Strätling M, Schmucker P. 100 Jahre Sauerstofftherapie (1902-2002) - Eine medizinhistorische Neubewertung.  AINS. 2002;  37 712-721

Univ.-Prof. Dr. Ludwig Brandt

Zentrum Anästhesiologie, Intensivmedizin, Schmerztherapie · Klinikum Wuppertal GmbH, Universität Witten/Herdecke

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