PPH 2002; 8(5): 239
DOI: 10.1055/s-2002-35197
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

Ulrike  Villinger
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Publication Date:
30 October 2002 (online)

In Sitzungen des psychosozialen Koordinationsgremiums eines Landkreises beschreiben mehrere Teilnehmer die für die komplementären Versorgungseinrichtungen und für die Angehörigen belastenden Folgen der verkürzten Verweildauer der Patienten in der zuständigen Klinik: Viele Patienten werden noch völlig instabil entlassen. Das Wohnheim oder der aufsuchende Betreuungsdienst, beide möglicherweise unzureichend oder zu spät informiert, übernehmen damit Aufgaben, die in der Somatik im Anschluss an eine Krankenhausbehandlung bei schwerer Erkrankung üblicherweise von einer speziellen Rehabilitationseinrichtung übernommen werden. Die Tagesstätten sind entweder überfüllt oder haben lange Wartelisten - aber psychisch kranke Menschen können doch eines ganz schlecht, nämlich warten und so lange zu Hause einsam die Angst aushalten, dass die Psychose wieder die Oberhand gewinnt. Besucher in der überfüllten Tagesstätte bleiben weg, weil das Milieu für sie nicht mehr zuträglich ist, obwohl ihnen diese niederschwellige Form der Tagestrukturierung lange Zeit geholfen hat, über die Runden zu kommen. Aber die Werkstatt nimmt nur Mitarbeiter auf, die stabil genug sind, den ganzen Tag durchzuhalten, Werkstattbesuch nur stundenweise - Fehlanzeige.

Dieselbe Situation aus Sicht der zuständigen Klinik wird ungefähr so beschrieben: Die Kostenträger verlangen die kurze Verweildauer der Patienten, der Schriftverkehr zur Verlängerung einer Kostenzusage verschlingt immense Zeit, die der direkten Behandlung der Patienten entzogen wird. Der Patient erhält nicht mehr die Zeit, sich von einer psychiatrischen Erkrankung zu erholen und während dieser Zeit zu überlegen, wie es jetzt weitergehen wird. Das Milieu auf einer Akutstation mit fast ausschließlich akut kranken Patienten gleicht einem Hexenkessel, man kann sich als Patient dort überhaupt nicht erholen. Dies führt zusätzlich zur Verkürzung der durchschnittlichen Verweildauer, weil viele Patienten wegen dieser zu anstrengenden Umgebung vorzeitig das Krankenhaus verlassen. Eine Stabilisierungs- oder Motivationsphase, vergleichbar mit der stationären Rehabilitationsbehandlung in der Somatik, findet im psychiatrischen Sektor nicht mehr statt.

Dieser erwähnte „Hexenkessel” begegnet mir bei meinen Besuchen auf psychiatrischen Stationen in zunehmendem Maße. Die Psych. PV mit ihrer personellen Aufstockung hatte in den 90er Jahren zu einer spürbaren Entspannung geführt. Dieser - kleine - Vorrat an Spielräumen für eine akzeptable und hilfreiche Atmosphäre ist in den Krankenhäusern verzehrt. Die mir bekannten Beschreibungen aus kleinen Wohnheimen oder Tagesstätten, die die Auswirkungen der gängigen Gesundheitspolitik durch Frühentlassung zu spüren bekommen, sprechen dafür, dass auch dort viele subakut kranke Menschen mit unzureichender Ausstattung in bewundernswerter Weise „über Wasser gehalten” werden. Dies geschieht jedoch auch immer wieder auf Kosten der stillen und sich nicht wehrenden Besucher oder Bewohner, die den Dienst ebenso benötigen.

Es wird allgemein sehr viel über Missstände geklagt, jedoch fehlen ganz konkrete und detaillierte Beschreibungen, wie es denn wirklich aussieht. Vor allem von unserer Berufsgruppe gibt es hier wenig zu lesen, wo doch in manchen Veröffentlichungen davon die Rede ist, dass die Pflege Anwaltsaufgaben für Patienten beansprucht. Unsere Mediengesellschaft braucht jedoch genau solche detaillierten Schilderungen über einen Sachverhalt, damit für den Berufsangehörigen, für den sozialpolitisch engagierten Bürger und für den politischen Entscheidungsträger eine Situation, ein Missstand begreifbar und nachvollziehbar wird. Daraus erst können politische Handlungen erwachsen.

Wir haben in Psych. Pflege Heute in diesem Jahr zwei Artikel aus Großbritannien veröffentlicht, die Mängel in der Versorgung psychisch Kranker beschreiben. Ich lade Sie als Leserin und Leser unserer Zeitschrift dazu ein, uns detaillierte Beschreibungen der konkreten Situation vor Ort zur Veröffentlichung einzureichen. Daraus könnten Forschung, sozialpolitische Willensbildung und letztlich Veränderung entstehen.

 





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