Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2002; 12(2): 71-72
DOI: 10.1055/s-2002-28482
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Fachgebiet Physikalische Medizin und Rehabilitation

The subject Physical Medicine and RehabilitationU.  C.  Smolenski
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Publication History

15. 2. 2002

19. 2. 2002

Publication Date:
13 May 2002 (online)

In Deutschland sind über 6,6 Millionen Menschen schwerbehindert (GDB über 50 %), dies sind 8 % der Bevölkerung, jeder 12. Bundesbürger. Nur in 2,45 % ist ein Unfall Ursache der Schwerbehinderung, in 86,2 % sind es so genannte „allgemeine Krankheiten” (Statistisches Bundesamt 1999). Schon jetzt werden pro Jahr ca. 2 Mio. Vorsorge- und Rehabilitationsverfahren durchgeführt. Die Sozialleistungsträger geben jährlich 57 Mrd. DM für Rehabilitationsleistungen aus (BAR-Information 5/2001). Spezieller medizinischer Sachverstand ist für die Zukunft gefordert, um den derzeitigen Anteil an medizinischen Rehaleistungen von 18,3 Mrd. DM im Interesse der Solidargemeinschaft optimal zu nutzen. Die demographische Entwicklung mit Verschiebung der Alterspyramide und einer Zunahme multimorbider und chronisch kranker Menschen macht den Umgang mit Krankheitsfolgen noch mehr als bisher zu einem wesentlichen Bestandteil der medizinischen Versorgung.

Physikalische Medizin ist am ehesten an der Zahl von ca. 140 000 Heilmittelerbringern (Statistisches Bundesamt 1999) quantitativ zu erfassen, die nur auf Anordnung oder Verordnung des Arztes tätig werden dürfen. Allein für den Bereich der ambulanten Heilmittel hat die GKV im Jahr 1999 8,84 Mrd. DM aufgewendet.

Dieser umfassende und zunehmend bedeutsame Versorgungsbereich erfordert eine Weiterentwicklung des speziellen ärztlichen Sachverstandes auf wissenschaftlich-medizinischer Grundlage.

Im Rahmen der ärztlichen Weiterbildungsordnung wurde 1956 dieser Notwendigkeit mit dem Facharzt für Physiotherapie in der DDR und 1992 in Deutschland mit Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin entsprochen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es die Bereichsbezeichnung „Physikalische Therapie”. Damit holte Deutschland eine Entwicklung nach, die in allen vergleichbaren europäischen Ländern und den USA deutlich früher stattgefunden hatte (z. B. USA 1947, Holland 1956, Schweiz 1959, Frankreich 1965). In diesen Ländern handelt es sich dabei immer um ein eigenständiges Gebiet, in der Regel als „Physikalische Medizin und Rehabilitation” ausgewiesen. In Deutschland wird dieses Fachgebiet repräsentiert durch die wissenschaftliche Fachgesellschaft (Deutsche Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation) mit dieser gelisteten Fachzeitschrift und dem Berufsverband (BV der in Rehabilitation, Physikalischer Medizin und Prävention tätigen ÄrzteInnen).

Auch der Gesetzgeber hat durch Schaffung eines eigenen Sozialgesetzbuches für die Rehabilitation (SGB IX) mit daraus resultierender Änderung des SGB V die Konsequenzen aus dem zunehmenden Bedarf an Rehabilitation gezogen. Seit 1. 7. 01 besteht unter anderem der gesetzliche Auftrag, die Frührehabilitation ins Akutkrankenhaus zu integrieren. Ebenso beteiligt sich die KBV als Körperschaft des öffentlichen Rechtes nachhaltig durch strukturelle Veränderungen, z. B. Heilmittel-Richtlinien und Reha-Richtlinien nach § 92 SGB V, an der Innovation. Die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben und ihre Ausgestaltung machen die Verpflichtung zu optimaler Qualifizierung der Ärzte in diesen Versorgungsbereichen noch dringlicher, nicht zuletzt, um so die rehabilitative Kompetenz in ärztlicher Hand zu belassen. Nur ausreichende Abbildung dieser Aufgaben in der Weiterbildungsordnung kann den Auftrag sichern.

Derzeit stehen für diesen Versorgungsauftrag die Gebietsbezeichnung „Physikalische und Rehabilitative Medizin” sowie die Bereichsbezeichungen „Physikalische Therapie” und „Rehabilitationswesen” zur Verfügung. Die 1976 eingeführte „Physikalische Therapie” berücksichtigt aber unzureichend den durch die Heilmittel-Richtlinien vom 1. 7. 01 ausgelösten Wandel in der konzeptionellen Versorgung und ist nicht gebietsspezifisch ausgelegt. Das 1992 eingeführte „Rehabilitationswesen” vermittelt Kenntnisse zum formalen Geschehen der Rehabilitation ohne Berücksichtigung der Methoden der Rehabilitation. Als Bereichsbezeichnung haben beide den Nachteil, dass sie nur zusätzlich zu einer Gebietsbezeichnung erworben werden können. Dies bedeutet, dass ein Arzt, der sich über die Bereichsbezeichnung „Rehabilitationswesen” zusätzlich qualifizieren will, in der Regel insgesamt acht Jahre benötigt. Damit kann er aber nur fachspezifisch rehabilitativ tätig sein. Er verfügt dann zwar über die volle kurative Kompetenz seines Gebietes, ohne die für die spezielle rehabilitative Funktion notwendige Methodenlehre erfahren zu haben. Für das Gebiet „Physikalische und Rehabilitative Medizin” besteht insofern ein Handlungsbedarf, als es 1992 nicht möglich war, die Inhalte und Richtlinien dem Bedarf entsprechend zu gestalten.

Die Novellierung der Weiterbildungsordnung bietet gerade für die Versorgungsbereiche der Rehabilitation und der Physikalischen Medizin die besondere Chance, den speziellen ärztlichen Sachverstand grundsätzlich zu verbessern. Das Ergebnis muss heißen, dass zum einen die Physikalische Therapie gebietsspezifisch gestaltet werden sollte und zum anderen allen Ärzten Grundkenntnisse zur Rehabilitation im Rahmen ihrer Weiterbildung vermittelt werden sollten. Ärzte, die schwerpunktmäßig in der Rehabilitation tätig sind, müssen aber über eine umfassende Kompetenz in diesem eigenständigen Versorgungsbereich verfügen. Die für die medizinische Rehabilitation notwendige Gesamtheit von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ist so umfangreich, dass ihr nur durch den Ausbau des zur Zeit bestehenden Gebietes entsprochen werden kann. Eine neue konzeptionelle Auslegung muss zudem die Vernetzung im Weiterbildungsgang mit anderen Gebieten besser ermöglichen. Hierdurch würde garantiert, dass indikationsspezifische und indikationsübergreifende ärztliche Kompetenz gleichwertig zur Verfügung stehen. Grundlage sind die Vorstellungen der WHO im Sinne des ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health).

Um dies zu verwirklichen, wird mit Bezug auf den entsprechenden Kriterienkatalog von Wissenschaftlicher Fachgesellschaft, Berufsverband und Arbeitsgemeinschaft die Novellierung der Weiterbildung für das Gebiet Physikalische Medizin und Rehabilitation mit dem Weiterbildungsausschuss der Bundesärztkammer erarbeitet.

Prof. Dr. med. U. C. Smolenski

Institut für Physiotherapie · Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Kollegiengasse 9

07740 Jena

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