Rehabilitation (Stuttg) 2001; 40(5): 289-303
DOI: 10.1055/s-2001-17416
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Berufsfindung und Biografie - Biografische Diagnostik als Zugang zu den Sinnhorizonten
und Ressourcen der Menschen in der beruflichen Rehabilitation

Occupational Choice and Biography - Biographical Diagnostics as an Approach to Accessing the Individual's Perceptual Horizons and Resources in the Context of Vocational RehabilitationW.  Dern1 , A.  Hanses2
  • 1Rehabilitationszentrum Stephanuswerk Isny
  • 2Institut für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung (IBL), Universität Bremen
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Publication Date:
26 September 2001 (online)

Zusammenfassung

Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht die zentrale These, dass Berufsfindung die Biografie, die lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die biografischen Selbstsichten und die Handlungsorientierungen der behinderten Menschen in ihre Alltagspraxis integrieren muss. Sie droht sonst mit ihren professionellen Strategien kontraproduktiv an den biografischen Ressourcen und Sinnhorizonten ihrer NutzerInnen vorbei zu handeln. Als Methode eines verstehenden Zugangs zu den BerufsfinderInnen wird hier die biografische Diagnostik vorgestellt. Es handelt sich um ein neues Konzept eines biografischen, hermeneutischen Fallverstehens, das für die Alltagspraxis der beruflichen Rehabilitation konzeptualisiert worden ist. Anhand von zwei Fallbeispielen wird die Methode der biografischen Diagnostik expliziert und die Relevanz einer Biografieorientierung in der Berufsfindung ausgeführt.

Occupational Choice and Biography - Biographical Diagnostics as an Approach to Accessing the Individual's Perceptual Horizons and Resources in the Context of Vocational Rehabilitation

This contribution is focused on the core tenet that the process of choice of occupation must encompass in its everyday routines the disabled person's biography, his or her life experiences, biographical self-appraisals as well as action orientations. Unless this is achieved, its professional strategies and interventions will remain prone to missing, or even counteracting, the biographical resources as well as thinking and perceptions of its clients. Biographical Diagnostics is presented here as a method seeking to access the individual in the process of choice of occupation in an understanding manner. It constitutes a new concept in terms of a biography-based, hermeneutic case approach conceived for implementation in the everyday routines of vocational rehabilitation. Two case examples serve to explicate the method of Biographical Diagnostics and set out the relevancy of a biographical orientation in the process of occupational choice.

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1 In der Berufsfindung und beruflichen Rehabilitation werden die Behinderten wenig dazu eingeladen, eigene Phantasien und Lebensentwürfe zu entwickeln (vgl. [4]).

2 „(1) Behinderte sind körperlich, geistig oder seelisch beeinträchtigte Personen, deren Aussichten, beruflich eingegliedert zu werden oder zu bleiben, wegen Art oder Schwere ihrer Behinderung nicht nur vorübergehend wesentlich gemindert sind und die deshalb Hilfen zur beruflichen Eingliederung benötigen.

2 (2) Den Behinderten stehen diejenigen Personen gleich, denen eine Behinderung mit den in Absatz 1 genannten Folgen droht ..." (§ 19 SGB III) (zit. nach [43]).

3 „Schwerbehinderte im Sinne dieses Gesetzes sind Personen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50, sofern sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 7 Abs. 1 regelmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben" (§ 1 Schwerbehindertengesetz - SchwbG) (zit. nach [43]).

4 Das Bundessozialgericht hat hierzu (Aktenzeichen 4 RJ 63/79) festgestellt: Von den berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation, die der Rentenversicherungsträger erbringt (§ 1237 a RVO), ist jedenfalls die Umschulung (§ 1237 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO) in der Regel erst dann beendet, wenn der Betreute (Versicherte) „in Arbeit” eingegliedert ist (§ 1 Abs. 1 RehaAnglG), also eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt der Rentenversicherungsträger auch über das Ende der eigentlichen Umschulungsmaßnahme hinaus zur Rehabilitation zuständig; er muss von den Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme (§ 1237 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RVO i. V. m. §§ 53 und 54 AFG) bei Vorliegen der Voraussetzungen jedenfalls die Aufwendungen für Arbeitsausrüstung, die Überbrückungsbeihilfe und die Eingliederungshilfe tragen (zitiert nach Rehadat) (zit. nach [43]).

5 Zur Bedeutung, die der internen Struktur der Einrichtung beim Erkennen der Besonderheiten des einzelnen Rehabilitationsfalls zukommt, siehe [8], S. 386 ff., [11] [23].

6 Der Ausdruck „biografischer Ort” ([3], S. 39) verweist auf das Bild der zeitlichen Abfolge der Lebensereignisse. Jedes Ereignis hat in dieser biografischen Linie seinen Ort. Dieser Ort steht in Beziehung zu dem, was zuvor geschehen ist, und zu dem, was nachfolgend geplant war. So ist der „biografische Ort”, an dem ein unverheirateter 20-Jähriger in der Ausbildung von einem Verkehrsunfall getroffen wird, der zu einer Beinamputation führt, ein gänzlich anderer als der eines 40-jährigen verheirateten Mannes mit drei Kindern, der gerade ein Haus gebaut hat und dem Gleiches widerfährt.

7 Die wissenschaftliche, interessengesteuerte Reduktion auf wenige gemeinsame Merkmale führt zum einen zu Regelkenntnis und Erfahrung und darüber zu einem erfahrungsgesteuerten nachprüfbaren Behandlungsansatz auf der anderen Seite zur Entindividualisierung, was immer dann problematisch ist, wenn die ausgewählten Merkmale wesentliche Sachverhalte nicht enthalten, die für diesen Rehabilitanden entscheidend sind ([3]), S. 8).

8 Das Verfahren der narrativen Gesprächsführung in der biografischen Diagnostik ist an die Struktur der Gesprächsführung im Verfahren des narrativen Interviews angelehnt (vgl. [15] [20] [46] [47]). Dennoch entstand in der Konzeption der biografischen Diagnostik die Notwendigkeit, die Komplexität großer biografischer Erzählungen im Kontext der Rehabilitation pragmatisch einzugrenzen (vgl. auch [28] [31]).

9 Über das Verhältnis von Narration und Institution, über die (Un-)Möglichkeit des Erzählens im institutionellen Kontext, siehe [30].

10 Da die Zielsetzungen der biografischen Diagnostik auf keine wissenschaftliche Analyse abzielen, können Arbeitsschritte wie ein systematischer Fallvergleich und eine gegenstandsbezogene Theoriebildung vernachlässigt werden.

11 Eine Rehabilitationsmaßnahme für Jugendliche, von denen angenommen wird, dass sie anschließend in eine Lehre einmünden können. Die Maßnahme wird von der Bundesanstalt für Arbeit gefördert.

12 Der Name und die Details der Lebensgeschichte wurden so verändert, dass die Strukturprinzipien sichtbar bleiben, aber ein Wiedererkennen der Person ausgeschlossen erscheint.

13 Die Passage wurde aus Gründen der Anonymisierung nicht wiedergegeben.

14 Die von U. Gerhardt berichteten Erfahrungen beschreiben präzise, was sich in den Gesprächen mit vielen Teilnehmern ergab. „Das biografische Wissen, das die Interviewerinnen und die Befragten beim Zweitinterview gemeinsam hatten, ermöglichte eine andersartige Vertrautheit im Umgang miteinander als beim ersten Gespräch. Dies wiederum führte dazu, dass Befragte ausführlicher über Einzelheiten berichteten, auch wenn diese gefährlich oder peinlich für sie erscheinen (...). Das von Interviewerinnen und Befragten gemeinsam geteilte biografische Fallwissen förderte (...) eine Vertrauensbereitschaft, die es leichter machte (...) mit ihnen zusammen durchzusprechen, (...) wie die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse und Behandlungs- und Berufsphasen bei ihnen verlaufen war. Die Befragten gaben sich viel Mühe, uns zu verbessern und mit uns eine lückenlose und „richtige” Sequenz innerhalb der Patientenkarriere zu erarbeiten. Bei der Auswertung war es wiederum hilfreich, dass alle Äußerungen dabei auf Tonband aufgenommen worden sind, so dass der Prozess der Präzisierung der Angaben im Gespräch verfolgt werden kann” ([17], S. 76 - 77).

Dr. phil. Andreas Hanses

Institut für angewandte Biographie- und Lebenswertforschung (IBL), FB 11, Universität Bremen

Postfach 33 04 40

28334 Bremen

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