Z Sex Forsch 2017; 30(04): 309-331
DOI: 10.1055/s-0043-122001
Originalarbeiten
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Familiäre Herkunftsbedingungen und die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen – ein empirischer Überblick

The importance of family conditions of origin for the sexual development of children and adolescents – An empirical overview
Konrad Weller
a   Fachbereich Soziale Arbeit. Medien. Kultur, Hochschule Merseburg
,
Gustav-Wilhelm Bathke
b   Fachbereich Erziehungswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Publication Date:
04 January 2018 (online)

Zusammenfassung

Sexuelle Bildung findet im Spannungsfeld zwischen Familie und außerfamiliären Sozialisationsinstanzen statt. Professionelle Sexualpädagog*innen benötigen deshalb Kenntnisse auch zu familiärer Sexualerziehung und über den Zusammenhang familiärer Herkunftsbedingungen und sexueller Entwicklung. Angesichts der in der Bundesrepublik seit 2014 geführten Debatte zum Verhältnis von familiärer und außerfamiliärer sexueller Bildung werden in folgendem Beitrag empirische Befunde ausgewählter Studien zu familiären Herkunftsbedingungen in ihrer Bedeutung für die Sexualentwicklung von Kindern und Jugendlichen dargestellt. Dafür werden neben soziokulturellen Bedingungen wie Bildung der Eltern, Religiosität und nationale Herkunft auch Aspekte des Erziehungsstils, die verbale Kommunikation in der Familie, der Umgang mit Nacktheit sowie die liebevolle Beziehungsgestaltung analysiert. Die Ergebnisse deuten auf einen qualitativen Wandel der „Familiarisierung“ sexueller Entwicklung hin: Verbale Kommunikation im Sinne aufklärender Wissensvermittlung durch Eltern hat aufgrund der angewachsenen Informationsmöglichkeiten in den modernen Medien an Bedeutung verloren. Der Einfluss auf die sexuelle Entwicklung generell hat sich hingegen verstärkt. Eltern agieren zurückhaltender und grenzachtender – kommunikativ wie körperlich. Trotz eines historischen Angleichs der Erziehungsmodi gegenüber Töchtern und Söhnen ist die sexuelle Entwicklung von Mädchen nach wie vor stärker familiär beeinflusst als die von Jungen.

Abstract

Sex education takes place in the conflicted area between family and extrafamilial social institutions (school, peer groups, media). Professional sexual pedagogues require knowledge about sex education in families. This contribution considers the debate that has been taking place since 2014 about the relationship between the empirical findings of various studies in the field of familial and extrafamilial sex education on family conditions of origin and their importance for the sexual development of children and adolescents. These are presented in a historical perspective. Besides sociocultural conditions such as parental educational level, religion and national origin, aspects of parenting style, verbal communication in the family, dealing with nudity and the creation of loving relationships will also be analyzed. Results suggest a qualitative change in the “familiarization” of sexual development: Knowledge transfer through verbal communication from the parents has lost its significance due to the growing opportunities for accessing information via modern media. The influence of parents on sexual development has however in general increased. In communication and physical contact, parents act more cautiously and respectfully. A historical comparison of education models between sons and daughters shows that the sexual development of girls is still more influenced by the family than the development of boys.

 
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