TumorDiagnostik & Therapie 2017; 38(09): 577-585
DOI: 10.1055/s-0043-117352
Thieme Onkologie aktuell
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Outcome-Messung bei Tumorerkrankungen: GKV-Routinedatenanalysen als Alternative zur Durchführung klinischer Studien?

D. Horenkamp-Sonntag
,
R. Linder
,
S. Engel
,
F. Verheyen
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Publication Date:
07 November 2017 (online)

Einleitung

An die Nutzenbewertung von therapeutischen Innovationen bei Tumorerkrankungen sind besondere methodische Anforderungen zu stellen, v. a. wenn es sich um invasive Therapieverfahren handelt. Möchte man ein bestimmtes Verfahren nicht nur mittels Surrogat-Parametern (z. B. progressionsfreies Überleben) beurteilen, sondern auch vergleichende Aussagen zu "harten" Endpunkten wie dem Lebenszeitgewinn treffen, benötigt man aufwändige klinische Studien mit möglichst langen Nachbeobachtungszeiträumen. Dies gilt insbesondere bei Tumorentitäten, die unbehandelt erst nach sehr langen Zeiträumen mortal verlaufen. Eine akute Leukämie, die unbehandelt bleibt, führt beispielsweise innerhalb von etwa drei Monaten regelhaft und ausnahmslos zum Tod [1]. Anders hingegen beim Prostata-Ca, bei dem die relativen 5-Jahres-Überlebensraten in Deutschland mit 83 % bis 94 % angegeben werden [2] [3] [4] und auch Zuwarten eine mögliche Therapieoption darstellt.

Da das Prostata-Ca mit 63 400 Erkrankungen in Deutschland pro Jahr häufig ist [2] [3] [4], das Sterberisiko mit einer Mortalität von 1 % niedrig ist [5] [6] und mehrere unterschiedlich invasive Therapieoptionen zur Verfügung stehen, sind bei dieser Indikation Outcome-Messungen aus methodischer Perspektive besonders anspruchsvoll. Umso bedauerlicher ist es, wenn langfristig geplante randomisierte kontrollierte Studien aufgrund von Rekrutierungsproblemen abgebrochen werden müssen. Nach dem vorzeitigen Ende der kanadischen START-Studie in 2011 [7] und dem Abbruch der deutschen PREFERE-Studie in 2016 [8] muss aktuell auf neuen Erkenntnisgewinn durch Studien mit dem höchsten Evidenzgrad (RCT) verzichtet werden. Daher verbleiben momentan nur retrospektive Kohortenstudien, um Aussagen zum Stellenwert der unterschiedlichen therapeutischen Optionen beim Prostata-Ca treffen zu können.

Da nach wie vor Primärdaten auf methodisch akzeptablem Niveau zur Nutzenbewertung der Therapie-Alternativen beim Prostata-Ca fehlen, soll mit diesem Beitrag exemplarisch dargestellt werden, inwiefern auf Basis von GKV-Routinedaten valide Aussagen zur Outcome-Messung bei Tumor-Erkrankungen generiert werden können.

Therapie des Prostata-Ca

Die Therapie des Prostata-Ca erfolgt stadienabhängig und kriterienorientiert. Nur für lokal begrenzte Tumore existieren kurative Therapieverfahren [9]. Hierzu stehen neben den abwartenden Optionen Active Surveillance bzw. Watchful Waiting als Maßnahmen v. a. die radikale Prostatektomie (RP), die externe Strahlentherapie (EBRT) sowie die Brachytherapie (PBT) zur Verfügung [9] [10] [11]. Die PBT ist ein strahlentherapeutisches Verfahren, bei dem radioaktive Strahlenquellen lokal auf das Prostatagewebe einwirken. Zum einem gibt es die permanente interstitielle Brachytherapie (LDR-Brachytherapie), die beim lokal begrenzten Prostata-Ca meist als Monotherapie durchgeführt wird. Hierbei werden radioaktive Strahlenquellen in Form von einzelnen Seeds über Hohlnadeln in das Prostatagewebe zum dauerhaften Verbleib eingebracht. Als Strahlenquelle werden üblicherweise Jod-125 oder Palladium-103 verwendet. Zum anderen gibt es die temporäre Seed-Implantation in Afterloading-Technik, bei der die Strahlenquelle nach einer kurzen Einwirkungszeit wieder aus der Prostata entfernt wird (HDR-Brachytherapie). Diese wird als lokale Therapie beim fortgeschrittenen Prostata-Ca angewendet, meist in mehreren Sitzungen und in Kombination mit einer perkutanen externen Bestrahlungstherapie [9] [10].


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Evidenz der Brachytherapie als GKV-Leistung

Die PBT wird seit Mitte der 90er Jahre beim Prostata-Ca angewendet. Dennoch reicht die Datengrundlage nicht aus, um den Nutzen im Vergleich zu den therapeutischen Alternativen EBRT und RP bewerten zu können. Zu diesem Ergebnis kommen zwei deutsche HTA-Berichte [9] [11], die für ihre Bewertung aufgrund fehlender randomisierter kontrollierter Studien lediglich retrospektive Kohortenstudien heranziehen konnten. Während der Bericht von Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Bundesärztekammer (BÄK) hinsichtlich der Standardtherapie beim lokal begrenzten Prostata-Ca zu dem Ergebnis kommt, dass evidenzbasiert der RP der Vorrang vor allen anderen Therapiealternativen gebührt, kommt der Bericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zu dem Schluss, dass lediglich für die RP der Nachweis existiert, dass sie das krankheitsfreie und das Gesamtüberleben erhöht. Sofern eine RP nicht in Frage kommt (z. B. Narkoserisiko oder Patientenpräferenzen), bedeutet dies für KBV und BÄK, dass es evidenzbasiert nicht vertretbar ist, die PBT angesichts der Vergleichbarkeit von Evaluationsstand und Wirksamkeits-Verträglichkeits-Relation zu Gunsten der EBRT als aktive Therapieoption auszuschließen. Das IQWiG sieht zwar das Dilemma, dass sowohl für die PBT als auch zu den vorhandenen Therapiealternativen belastbare Evidenz für einen direkten patienten-relevanten Nutzen in nur einem sehr begrenzten Umfang vorliegt. Es kommt aber zu dem Schluss, dass die PBT keine Therapieoption sein kann, da ein möglicher Schaden bezogen auf Überleben und krankheitsbedingte Beschwerden nicht sicher ausgeschlossen werden kann.

Vor diesem Hintergrund hat der G-BA am 17.12.2009 nach sieben Jahren Beratungszeit beschlossen, die Beratung über die PBT als ambulante GKV-Leistung für zehn Jahre auszusetzen, um durch vergleichende Studien mehr Erkenntnisse zu gewinnen [12] [13] [14]. Daran änderte auch ein IQWiG-Update-Bericht von 2010 [15] nichts, in dem 20 zusätzliche Studien einbezogen wurden.

Unabhängig von dem Aussetzungsbeschluss des G-BA gemäß § 135 Abs. 1 SGBV kann die PBT derzeit als GKV-Leistung entweder als stationäre Leistung erbracht werden oder alternativ im Rahmen selektivvertaglicher Regelungen (z. B. integrierte Versorgung nach §§ 140a ff SGBV) ambulant durchgeführt werden [12] [16].


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PREFERE als präferenzbasierter RCT

Im Rahmen der Tragenden Gründe zum G-BA-Aussetzungsbeschluss vom 17.12.2009 [13] wurde erstmalig die Studie "Präferenzbasierte Studie zur Evaluation der interstitiellen Brachytherapie beim lokal begrenzten Prostatakarzinom mit niedrigem Risiko" (PREFERE) publiziert [17]. Für deren Konzeption zeichneten sich der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), das Kompetenz Centrum Onkologie (KCO) des MDK Nordrhein, das IQWiG sowie der GKV-Spitzenverband verantwortlich. Für die Umsetzung der prospektiven, randomisierten Studie wurde unter Beteiligung von GKV und PKV sowie mit einer Förderung durch die Deutsche Krebshilfe ein Finanzvolumen von 24,9 Millionen Euro geplant. Ziel der Studie war es, unter Berücksichtigung individueller Patientenpräferenzen den Nutzen und die Risiken der PBT im Vergleich zur RP zu evaluieren. Ferner sollten die therapeutischen Alternativen EBRT sowie Active Surveillance mitevaluiert werden, so dass insgesamt vier Therapiestrategien zur Randomisation anstanden. Dabei wurden auch individuelle Patientenpräferenzen berücksichtigt, so dass insgesamt elf randomisierte Teilstudien mit jeweils zwei bis vier Armen resultierten.

Die Studie hat am 22.01.2013 begonnen und sollte ursprünglich 2029/2030 beendet werden. Innerhalb der ersten vier Jahre sollten 60 Prüfzentren 7600 Patienten rekrutieren und über mindestens 13 Jahre nachbeobachten. In den ersten Jahren des Studienzeitraums zeigte sich jedoch eine wider Erwarten niedrige Teilnahmequote: Bis zum Abbruch von PREFERE am 05.12.2016 hatten sich lediglich 343 Patienten für eine Teilnahme an der Studie entschieden. Die Förderer der Studie haben nach dreieinhalb Jahren feststellen müssen, dass die Herausforderungen des Studiendesigns möglicherweise unterschätzt wurden. So hat beispielsweise sehr unerwartet der überwiegende Teil der Studienpatienten RP und EBRT als Therapieoption abgewählt, was dazu geführt hätte, dass die Teilnehmerzahl nochmals deutlich hätte erhöht werden müssen, wenn die Studie nicht vorzeitig abgebrochen worden wäre [8].


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  • Literatur

  • 1 Deschler B, Lübbert M. Acute myeloid leukemia: Epidemiology and etiology. Cancer 2006; 107: 2099-2107
  • 2 Bertz J, Dahm S, Haberland J. et al. Verbreitung von Krebserkrankungen in Deutschland Entwicklung der Prävalenzen zwischen 1990 und 2010. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Robert Koch-Institut. ; 2010
  • 3 Husmann G, Kaatsch P, Katalinic A. et al. Krebs in Deutschland 2005/2006. Häufigkeiten und Trends. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Robert Koch-Institut und die Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V., Hrsg; 2010 7. Ausgabe.
  • 4 Kraywinkel K, Bertz J, Laudi A. et al. Epidemiologie und Früherkennung häufiger Krebserkrankungen in Deutschland. Berlin: Robert Koch-Institut. GBE kompakt 3(4) 2012
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  • 7 Parulekar WR, McKenzie M, Chi KN. et al. Defining the optimal treatment strategy for localized prostate cancer patients: a survey of ongoing studies at the National Cancer Institute of Canada Clinical Trials Group. Curr Oncol 2008; 15: 179-184
  • 8 Deutsche Krebshilfe. Prostatakrebs-Studie PREFERE wird nicht fortgeführt. Deutsche Krebshilfe, Krankenkassen und -versicherungen beenden Förderung vorzeitig. Pressemitteilung vom 05.12.2016.
  • 9 Brüggemann M, Horenkamp D, Klakow-Franck R. et al. Permanente interstitielle Brachytherapie (Seed-Implantation) bei lokal begrenztem Prostatakarzinom. Health Technology Assessment von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung. Berlin: Bundesärztekammer. ; 2005
  • 10 Leitlinienprogramm Onkologie, Deutsche Krebsgesellschaft e.V., Deutsche Krebshilfe e.V., Hrsg. Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms. AWMF-Register-Nummer (043-022OL), Version 2.0 – Aktualisierung 2011.
  • 11 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Interstitielle Brachytherapie beim lokal begrenzten Prostatakarzinom. Abschlussbericht, Auftrag N04-02, Version 1.0, Stand: 17.01.2007. IQWiG-Berichte 2007; Nr. 15.
  • 12 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung) in der Fassung vom 17. Januar 2006, zuletzt geändert am 21. März 2013, veröffentlicht im Bundesanzeiger (BAnz AT 10.07.2013 B5), in Kraft getreten am 11. Juli 2013.
  • 13 Gemeinsamer Bundesausschuss. Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Richtlinie Methoden Vertragsärztliche Versorgung in Anlage III: Interstitielle Brachytherapie bei lokal begrenztem Prostatakarzinom vom 17. Dezember 2009.
  • 14 Unterausschuss „Methodenbewertung“ des Gemeinsamen Bundesausschusses. Interstitielle Brachytherapie beim lokal begrenzten Prostatakarzinom, Abschlussbericht Beratungsverfahren gemäß § 135 Abs. 1 SGB V, Stand vom 3. März 2010.
  • 15 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Interstitielle Brachytherapie beim lokal begrenzten Prostatakarzinom – Update, Rapid Report, Auftrag N10-01, Version 1.0. Stand: 13.12.2010. IQWiG-Berichte 2010; Nr. 79.
  • 16 Gemeinsamer Bundesausschuss. Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Einleitung eines Beratungsverfahrens: Bewertung der interstitiellen LDR-Brachytherapie bei lokal begrenztem Prostatakarzinom auf Basis eines Antrags gemäß § 137c SGB V vom 12. November 2009.
  • 17 Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS), Kompetenz Centrum Onkologie (KCO) des MDK Nordrheins, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), GKV-Spitzenverband. Präferenzbasierte Studie zur Evaluation der interstitiellen Brachytherapie beim lokal begrenzten Prostatakarzinom mit niedrigem Risiko – Studienkonzeption des GKV-Spitzenverbandes. In: Gemeinsamer Bundesausschuss. Interstitielle Brachytherapie beim lokal begrenzten Prostatakarzinom. Abschlussbericht. Stand: 3. März 2010. Tragende Gründe, Anhang A 6.3, A-13.
  • 18 Horenkamp-Sonntag D, Linder R, Verheyen F. Abstract FV68, Innovationsbewertung der permanenten interstitiellen Brachytherapie beim Prostata-Ca auf Basis von GKV-Routinedaten-Analysen. In: Abstractband, 9. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung und 5. Jahrestagung Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V, 30.09. – 02.10.2010 in Bonn. Monitor Versorgung Special; 2010: S. 66
  • 19 Horenkamp-Sonntag D, Linder R, Ahrens S. et al. Nutzenbewertung der Brachytherapie beim lokal begrenzten Prostata-CA: Potential von GKV-Routinedaten, 63. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie e. V. (DGU), 14. – 17. 09. 2011 in Hamburg. Abstract und Vortrag.
  • 20 Swart E. et al. (eds.) Routinedaten im Gesundheitswesen. Handbuch Sekundärdatenanalyse: Grundlagen, Methoden und Perspektiven. 2. vollst. überarb. Auflage. Bern: Huber Verlag; 2014
  • 21 Gute Praxis Sekundärdatenanalyse (GPS), Leitlinien und Empfehlungen. 3. Fassung. 2012 geringfügig modifiziert 2014.
  • 22 Horenkamp-Sonntag D. et al. Datenzugang und Datenvalidierung: Prüfung der Datenqualität und Validität von GKV-Routinedaten. In: Routinedaten im Gesundheitswesen. Handbuch Sekundärdatenanalyse: Grundlagen, Methoden und Perspektiven. 2. vollst. überarb. Auflage. Bern: Huber Verlag; 2014: 314-329
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