Diabetologie und Stoffwechsel 2017; 12(01): 72-74
DOI: 10.1055/s-0042-123102
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Vom Altersdiabetes zum Typ-2-Diabetes

Hellmut Mehnert
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Publication Date:
20 March 2017 (online)

In den ersten Jahren, in denen sich die Diabetologie allmählich entwickelte – etwa Ende des 19. Jahrhunderts (Bourchadat, v. Mehring, Minkowski) –, sprach man nur von einem Diabetes mellitus, der Zuckerkrankheit, die in entsprechenden Gutachten auch mit dem Ausdruck „Zuckerharn-Ruhr“ bezeichnet wurde. Allmählich kristallisierte sich dann heraus, dass es zwei Typen von Diabetikern gibt, so dass man zwischen dem juvenilen Diabetes und dem Altersdiabetes unterschied. Bald erkannte man, dass diese Einteilung nicht den Tatsachen entsprach, weil – zunächst weniger – jüngere Menschen an „Altersdiabetes“ erkrankten und – vor allem – viele juvenile Diabetiker im Erwachsenenalter erkrankten. Vorübergehend kam es in Deutschland zu der Unterscheidung „Insulinmangeldiabetes“ und „Gegenregulationsdiabetes“ (Bertram). Während die erstere Bezeichnung durchaus ihre Berechtigung hatte, war es mit „Gegenregulation“ nicht so weit her. Bertram postulierte eine vermehrte A-Zellen-Bildung und Hypersekretion von Glukagon als „Gegenregulation“ für diesen zweiten Typ. Dies konnte damals nicht bewiesen werden und wurde heftig kritisiert. Post festum muss man allerdings sagen, dass in der Tat diese Diabetiker eine vermehrte Glukagonsekretion aufweisen, dass aber entscheidend für die Entstehung des Diabetestyps die Insulinresistenz und das zunehmende Defizit in der körpereigenen Insulinsekretion zu suchen ist. Wiederum kam es zu einer Neubenennung der beiden Diabetestypen in „insulin-dependent diabetes mellitus (IDDM)“ und „noninsulin-dependent diabetes mellitus (NIDDM)“. Aber auch diese Bezeichnung konnte auf die Dauer nicht standhalten, da – wie eben aufgezeigt – auch der NIDDM-Typ eben nicht insulinunabhängig war. Vielmehr musste man erkennen, dass viele Diabetiker je älter sie wurden desto mehr dann doch eine Insulinbehandlung benötigten. Von einer nicht insulinabhängigen Diabetesform konnte also keine Rede sein. Schließlich kam es dann zu der jetzt üblichen Bezeichnung als Typ-1- und Typ-2-Diabetes, was eine gescheite Definition war, auch wenn sie zur Epidemiologie sowie zur Ätiologie und Pathogenese keinerlei Aussage machte.

In diesem Artikel soll zu dem Typ-2-Diabetes nach dem derzeitigen Stand des Wissens Stellung genommen werden. Bei etwa 6 – 8 Millionen bekannten und 1 – 3 Millionen noch unbekannten Diabetikern machen die Typ-2-Patienten zwischen 90 und 95 % aus, während der Rest etwas mehr als 5 % (Typ-1-Diabetiker und einige wenige Typ-3-Diabetiker, z. B. Steroid-Diabetes, Pankreas-Diabetes nach Pankreatektomie etc.) ausmacht. Genaue epidemiologische Daten gibt es leider nicht, da noch immer das von der Deutschen Diabetes Gesellschaft geforderte Diabetesregister, das es früher in der DDR gab, in Gesamtdeutschland nicht existiert.

Zur Pathogenese des Typ-2-Diabetes ist anzumerken, dass sich die oben erwähnte duale Betrachtungsweise durchgesetzt hat. Schon in frühen Stadien existiert bei vielen (aber nicht bei allen!) Diabetikern eine Insulinresistenz, und bei der Diagnose der Erkrankung kommt es praktisch immer zu einem relativen Insulinmangel, da der Organismus des Patienten nicht mehr in der Lage ist, die Insulinresistenz mit einer noch stärkeren Hyperinsulinämie zu kompensieren. Die tatsächlich gemessene Hyperinsulinämie bei diesen Patienten zeigt also nur, dass eigentlich noch mehr Insulin produziert werden müsste (was aber nun nicht mehr gelingt), um der Insulinresistenz zu begegnen.

Zwei wichtige Anmerkungen sind an dieser Stelle zu machen: Einmal ist festzustellen, dass laut britischen Studien zwischen Manifestation und Diagnose des Typ-2-Diabetes 8 – 10 Jahre vergehen können, sodass die Typ-2-Patienten also dementsprechend lange unbehandelt bleiben. Das ist natürlich eine Ursache dafür, dass wir bei der Diabetesdiagnose schon ein ausgeprägtes metabolisch-vaskuläres Syndrom vorfinden, nicht selten mit Hypertonie, Dyslipoproteinämie, androider (viszeraler) Fettsucht, Gerinnungsstörungen oder Fettleber. Auch die Mikroangiopathie, die eigentlich eher erst bei längerer Einwirkung der Hyperglykämie auftreten soll und doch schon bei nicht wenigen Typ-2-Diabetikern bei der Diagnose beobachtet wird, ist sicherlich damit zu erklären. Schon die Framingham-Studie hat überdies gezeigt, dass bereits Vorstadien im Sinne eines Prädiabetes oder einer gestörten Glukosetoleranz mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität einhergehen: nicht so viel wie beim manifesten Diabetes, aber deutlich mehr als bei normaler Glukosetoleranz. Dies wirft natürlich die Frage auf, warum die Krankenkassen bei der Prävention des Diabetes so zögerlich sind, wo doch schon im Vorstadium der Erkrankung oder bei nicht diagnostizierter Hyperglykämie kardiovaskuläre Schäden auftreten, die man u. U. durch eine rechtzeitige Ernährungs- und Bewegungstherapie verbessern könnte: So könnte im Stadium der gestörten Glukosetoleranz etwa durch Gewichtsabnahme in vielen Fällen wieder eine normale Glukosetoleranz erreicht werden, bzw. könnte man die Manifestation des Diabetes verhindern. Als zweite wichtige Anmerkung hat zu gelten, dass in der Tat der Begriff Altersdiabetes auch deshalb nicht mehr taugt, weil leider in zunehmendem Maße Kinder und Jugendliche an Typ-2-Diabetes erkranken. Es handelt sich dabei um junge Patienten, die stark übergewichtig sind, oft eine familiäre Typ-2-Belastung aufweisen, sich wenig bewegen und zu viel Fastfood und gesüßte Getränke zu sich nehmen. In Deutschland soll der Anteil Typ-2-diabetischer Kinder und Jugendlicher am Gesamtkollektiv der diabetischen Jugendlichen etwa 4 % betragen, während in den USA in einigen Staaten das Zehnfache an Typ-2-Diabetes-Prävalenz im Kinder- und Jugendalter beobachtet wird.

Ganz im Vordergrund der Bemühungen bei der Behandlung des Typ-2-Diabetes hat die Ernährungs- und Bewegungstherapie zu stehen, da ja 85 % dieser Patienten übergewichtig oder adipös sind. Beim Typ-1-Diabetes sind es immerhin auch 50 %! Die Look-AHEAD-Studie hatte Zweifel aufkommen lassen, ob die Forderung nach einer „Diät“ (= Ernährungs- und Bewegungstherapie) gerechtfertigt ist, da bei einer knapp 10-jährigen Beobachtung die strenger eingestellten Typ-2-Patienten nur wenig, aber nicht signifikant besser abschnitten als die Kontrollgruppe. Dazu ist aber anzumerken, dass auch bei der UKPDS-Studie nach 10 Jahren noch keine Signifikanz im Hinblick auf die Besserung der Makroangiopathie durch schärfere Diabeteseinstellung erreicht werden konnte, wohl aber nach 10 – 20 Jahren. Man hätte also die Studie fortführen können, zumal sich – wie gesagt – ein wenn auch nicht signifikanter Unterschied andeutete. Wichtiger aber ist noch, dass auch die Kontrollgruppe sich in ihren Stoffwechselwerten verbesserte (Studieneffekt) und dass die Prüfgruppe wegen zufällig höherer LDL-Werte und geringerer Statinbehandlung sogar ungünstigere Ausgangsbedingungen aufwies. Auch ist festzustellen, dass sich in der Prüfgruppe die Mikroangiopathierate verbesserte, dass die Depressions- und die Schlafapnoerate um 20 % reduziert wurden und dass die Fitnesszunahme und die Gesamtkosten infolge geringerer Medikamentengabe deutlich besser waren. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Look-AHEAD-Studie bewährte Ernährungs- und bewegungstherapeutische Maßnahmen ad absurdum geführt hätte. Im Gegenteil: Aufgrund dieser Ausführungen darf man sagen, dass nicht trotz, sondern wegen dieser Maßnahmen der Wert der Grundlagentherapie bewiesen wurde.

Für den Typ-2-Diabetes hat sich in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten auf medikamentösem Sektor viel getan. Mit den DPP4-Hemmern (Gliptine) wurden Substanzen geschaffen, die trotz ihres insulinotropen Effekts im Gegensatz zu den Sulfonylharnstoffen nicht zu Hypoglykämien führen, da sie nur dann den Blutzucker senken, wenn er erhöht ist. Diese „intelligente“ Medikation setzt sich immer mehr durch. Bei Sitagliptin (seit annähernd 10 Jahren im Handel) hat sich gezeigt, dass keine ernsthaften Nebenwirkungen etwa an dem Pankreas im Sinne von vermehrter Pankreatitis oder Pankreaskarzinom zu befürchten sind. Angesichts dieser Tatsache muss man sagen, dass die Sulfonylharnstoffe mit ihren verschiedenen Nachteilen (schwere Hypoglykämien, kardiovaskuläre Schäden, vermehrte Sturzgefahr, vermehrte stationäre Aufnahme wegen Folgen von hypoglykämieinduzierten Stürzen, Gewichtszunahme, relativ baldiges „Spätversagen“ der Medikation) als Auslaufmodelle zu betrachten sind. Neu hinzugekommen sind in den letzten Jahren auch die SGLT2-Rezeptorenhemmer, die Gliflozine, bei denen das Empagliflozin in der Empareg-Outcome-Studie hervorragende Ergebnisse zeitigte: Schon ganz früh, nämlich innerhalb des ersten Jahres, gelang es, bei einer Gesamtbeobachtung von etwa 3 Jahren die kardiovaskuläre Mortalität um 38 %, die Gesamtmortalität um 32 % und die Hospitalisationsrate wegen Herzinsuffizienz um 35 % zu senken. Ähnliches galt für die Mikroangiopathie. Der Vorstand der DDG hat hier zu Recht von einem Durchbruch der oralen Medikation gesprochen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat dem Präparat bei kardiovaskulären Vorschäden „beträchtlichen Zusatznutzen“ bescheinigt. Trotzdem muss man anmerken, dass es auch Nebenwirkungen gibt, wobei weniger die mykotischen Genitalinfektionen (bei 8 % der Frauen), die gut behandelbar sind und kaum zu Rezidiven neigen, entscheidend sind, als vielmehr die zwar seltenen, aber gefährlichen Ketoazidosen, die merkwürdigerweise auch unter Euglykämie auftreten können. Natürlich denkt man hier an den alten Spruch der Biochemiker: „Die Fette verbrennen im Feuer der Kohlenhydrate.“ Man fragt sich, ob der gewollte Verlust der Kohlenhydrate über den Urin in irgendeiner Weise nachteilig in den Fettstoffwechsel eingreift. Auch der Gliflozin-bedingte Einfluss auf die Glukagonsekretion wird diskutiert. Das sind aber reine Spekulationen. Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass solche ketoazidotischen Patienten nicht selten als Typ-1-Diabetiker auch mit Insulin behandelt wurden. Denn im Grunde gilt für die SGLT2-Rezeptorenhemmertherapie, dass sie bei jeder Medikation als Kombination angeboten werden kann. Die Vorteile sind – außer den Ergebnissen der Empareg-Outcome-Studie – u. a. zu sehen in der Natriurese mit gewisser Blutdrucksenkung, in der natürlich gewollten Blutzuckersenkung bei massiver Glukosurie, in der Tatsache, dass bei dem Abbau von Körpergewebe bevorzugt viszerales Fett, wie gewünscht, betroffen ist und dass am Tag 200 – 300 Kalorien als Glukose ausgeschieden werden, ein Ergebnis, was sich diätetisch oft nur schwer erzielen lässt. Bei all diesen Überlegungen zu den so wichtigen neuen oralen Antidiabetika sollte aber nicht vergessen werden, dass der Kronprinz unter diesen Substanzen sicherlich im Metformin zu suchen ist, das in jedem Falle – von wenigen Kontraindikationen abgesehen – als erstes Medikament eingesetzt werden sollte und sich als idealer Kombinationspartner für die genannten Substanzen eignet. Metformin wirkt blutzuckersenkend über eine Bremsung der hepatischen Glukoneogenese, Blutfett (Triglyzerid) reduzierend, appetitmindernd, gewichtsreduzierend, lebensverlängernd und womöglich antikarzinogen. Als weiterer Partner für das Metformin seien noch die SGLP1-Rezeptoragonisten erwähnt, die vom Typ des Exenatide, Liraglutide oder Dulaglitide etc. zur massiven Gewichtsabnahme führen und im Übrigen einen ähnlichen, allerdings stärkeren Effekt entfalten als die Gliptine. Nachteilig sind sicherlich der erhöhte Preis und die Tatsache, dass die Substanzen gespritzt werden müssen. Andererseits wurden unlängst ähnlich gute Resultate für kardiovaskuläre Schäden wie für Empagliflozin (s. o.) auch für Liraglutide mitgeteilt.

Theoretisch kommen für die Therapie des Typ-2-Diabetes auch Acarbose (leider mit gastrointestinalen Nebenwirkungen und hohem Preis) und nur selten Pioglitazon, das von den Kassen nicht mehr ersetzt wird, in Betracht. Beide Substanzen haben an sich Vorteile, die bei Acarbose in ausbleibenden Kontraindikationen und der guten Beeinflussung der gefährlichen postprandialen Hypoglykämie liegen und sich beim Pioglitazon als erstaunliche Effekte auf die Insulinresistenz und die Fettleber zeigen.

Wie oben ausgeführt benötigen Typ-2-Patienten in zunehmendem Maße auch Insulin. Hier haben Studien gezeigt, dass eine allmähliche Steigerung der Therapieformen – also beginnend mit der BOT (basalunterstützte orale Therapie) über die BOT plus (mit einem kurz wirkenden Analogon zu einer Hauptmahlzeit) und schließlich zur mehr oder weniger intensivierten Insulintherapie – günstiger ist, als wenn man die mit mehr Hypoglykämien und geringerer Patientenakzeptanz zu beobachtende Insulinbehandlung mit mehreren kurzwirkenden Spritzen von Anfang an durchführt. Man muss ja bedenken, dass die oralen Antidiabetika zwar in ihrer Wirkung nachlassen, aber nicht sofort total unwirksam sind, weswegen die Beibehaltung der Tablettentherapie mit der anfänglichen Kombination mit Insulin möglich und wünschenswert ist. Dadurch kommt es seltener zu Hypoglykämien; auch sind bei der BOT weniger Blutzuckerselbstkontrollen erforderlich als bei der intensivierten Behandlung. Trotzdem sollte man bedenken, dass Letztere bei progredientem Insulindefizit und langer Diabetesdauer dann letztlich doch für viele Typ-2-Patienten infrage kommt, wenn sie nur lang genug leben. Bei den Insulinen dominieren die kurz wirksamen Analoginsuline Aspart, Lispro und Glulisin und bei den lang wirkenden Insulinen neben dem zweimal zu spritzenden Detemir vor allem die Glargin-Insuline. Glargin U 300 hat sich gegenüber dem am weitesten verbreiteten Glargin U 100 insofern noch zusätzlich bewährt, als es noch weniger zu Hypoglykämien, zu einer geringeren Gewichtszunahme, zu einer größeren Flexibilität, einer geringeren Variabilität der Stoffwechselwerte und zu etwa der gleichen Dosis wie Glargin U 100 führt. Am Rande sei erwähnt, dass jene Typ-1-Diabetiker, bei denen ja mitunter (sehr selten) 2 Spritzen nötig sind, mit U 300 bei längerer Wirkdauer praktisch stets mit einer Injektion auskommen. Ein weiterer Vorteil ist darin zu sehen, dass U 300 sich nicht dem AMNOG-Verfahren unterziehen muss, da die großen prospektiven randomisierten Studien zur Unbedenklichkeit von U 100 im Hinblick auf Gefäßerkrankungen und Karzinogenese (ORIGINE, ORIGINALE, Rosenstock) voll auf U 300 übertragen werden können.

Prof. Dr. med. Hellmut Mehnert, Krailling