Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85(03): 135
DOI: 10.1055/s-0042-118305
Leserbriefe
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Notwendige Anmerkungen zur jetzigen Begrifflichkeit der akuten organischen Psychosyndrome

Detlef Müller
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Publication Date:
20 March 2017 (online)

Kürzlich erschien im Fortbildungsteil mit CME-Zertifizierung dieser traditionsreichen Zeitschrift ein höchst eindrucksvoll umfassend-eingehender Übersichtsbeitrag zum Delir [1], dessen Trefflichkeit nichts hinzuzufügen ist. Lediglich in einer – allerdings grundsätzlich äußerst wesentlichen – Hinsicht erscheinen einige Anmerkungen unausweichlich dringend erforderlich. Dies betrifft die einleitenden Ausführungen zum derzeitigen Delir-Begriff und den dazu als synonym ausgegebenen früheren verschiedenen Bezeichnungen. Dabei ist unschwer zu verstehen, dass die Autoren die mit den Klassifikationssystemen vorgegebene jetzige Fassung des Delir-Begriffes als Ober- oder Sammelbezeichnung für alle akuten organischen Psychosyndrome vertreten, wie dies jetzt eben üblich ist [2]. Sehr viel weniger leicht annehmbar ist, dass sich damit der Blick auf diesen Zustand geschärft habe, und jedenfalls ist der Auffassung zu widersprechen, dass die früher gebrauchten Bezeichnungen durch die Erweiterung des Delir-Begriffs überflüssig geworden seien. Letzteres folgt aus der Annahme, dass die „… Vielzahl in der Vergangenheit gebrauchter Begriffe … zum Teil ätiologische Aspekte betonen und in der Regel allenfalls unscharf definiert waren …“, was beides keineswegs zutrifft.

Die diesbezügliche Begriffsgeschichte zeigt, dass die akuten exogenen Reaktionstypen die jeweils akut auftretenden Erscheinungsbilder meinen, die Bezeichnung organische Psychosyndrome („psycho-organische Syndrome“, „hirnorganische Psychosyndrome“) die akuten und chronischen organischen Psychosyndrome zusammenfasst, der akute Verwirrtheitszustand eine – auch Amentia genannte – Variante des Delirs darstellt und das postoperative Durchgangssyndrom ein eigenes weites Problemfeld abgibt. Der Delir-Begriff kann also die verschiedenartigen anderen Bezeichnungen nur ersetzen, indem er die mit diesen gegebenen Unterscheidungsmöglichkeiten aufgibt. Es ist höchst bedauerlich-bemerkenswert, dass wohl nur Gerd Huber dies nachdrücklich beklagt hat [3] und sonst bei der Übernahme der jetzigen Klassifikationssysteme – auch an anderen Stellen – kein Problembewusstsein erkennbar ist.

Letzteres gilt übrigens weitgehend auch für einen anderen Sachverhalt, der freilich in der neuerlichen Delir-Übersicht naturgemäß nicht angesprochen ist. Es handelt sich um die Kennzeichnung der quantitativen Bewusstseinsstörungen als Störungen der Vigilanz, d. h. Wachheit. Dies wird mit mehr als zwei Dritteln in der überwiegenden Mehrzahl der verfügbaren 69 deutschsprachigen, hauptsächlich neurologisch-psychiatrischen Lehrbücher und Übersichtsbeiträge vertreten. Sofern zwischen Bewusstseinstrübung und Schläfrigkeit unterschieden und die erstere als Grundlage der quantitativen Bewusstseinsstörung angenommen wird, geschieht dies aber auch nur in knapp der Hälfte der Beiträge folgerichtig entschieden-nachdrücklich.

Besonders bemerkenswert ist in zweierlei Hinsicht die Situation des Begriffs Durchgangssyndrom. Einerseits war vor sechs Jahrzehnten die Einführung der Konzeption H. H. Wiecks geradezu als Erlösung zu erleben, weil sie das Vorkommen endoformer Psychosyndrome und damit das Fehlen einer Bewusstseinsstörung bei offenkundig organischen sv. exogenen sv. körperlich begründbaren sv. symptomatischen Psychosen erklärte und damit die vorhandene überaus große Ratlosigkeit beseitigte. Zum anderen ist jetzt festzustellen, dass der Begriff Durchgangssyndrom – sofern er überhaupt noch vorkommt – entweder völlig entstellt auf die Rückbildungsfähigkeit der akut auftretenden organischen Psychosyndrome oder sogar eingeengt auf das postoperative Delir abgestellt wird, falls man ihn nicht überhaupt als „schlecht definiert“ oder „unanschauliche Leerformel“ ablehnt. Demgegenüber ist hervorzuheben, dass erfahrungsgemäß die Begriffsfassung im Sinne von H. H. Wieck klar und damit berechtigt sowie notwendig und dadurch unaufgebbar ist [4]. Darauf soll demnächst weiter eingegangen werden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die sich aus den derzeit gebräuchlichen Klassifikationssystemen ergebende Auffassung, mit der Bezeichnung Delir sei ein angemessener Ober- bzw. Sammelbegriff für verschiedene bisherige Bezeichnungen gegeben, nicht zutreffend ist. Jedenfalls sollte ein diesbezügliches Problembewusstsein erhalten bleiben.

 
  • Literatur

  • 1 Hübscher A. Isenmann S. Delir: Konzepte, Ätiologie und klinisches Management. Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: 233-244
  • 2 Frühwald T. Weissenberger-Leduc M. Jägsch C. et al. Delir. Eine interdisziplinäre Herausforderung. Z Gerontol Geriat 2014; 47: 425-440
  • 3 Huber G. Psychiatrie. 6. Aufl. Stuttgart: Schattauer; 1999
  • 4 Müller D. Hallmeyer-Elgner S. Verschiedenartige Anfälle, ungewöhnliches EEG-Anfallsmuster und episodisches Psychosyndrom. Ein Krankenbericht Nervenarzt 2015; 86: 887-890