Allgemeine Homöopathische Zeitung 2016; 261(04): 22-25
DOI: 10.1055/s-0042-107296
Spektrum
Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart

Interview mit Prof. Dr. med. Dr. phil. Josef M. Schmidt

Michael Teut
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Publication Date:
29 September 2016 (online)

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Josef M. Schmidt

AHZ: Sehr geehrter Herr Professor Dr. Dr. Schmidt, jüngst konnten Sie einige Jubiläen feiern: 2015 erhielten Sie den „Wissenschaftspreis Samuel Hahnemann der Geburtsstadt Meißen“, soeben sind Ihre gesammelten Schriften zur Geschichte und Theorie der Homöopathie in 6 Bänden erschienen, seit 50 Semestern unterrichten Sie an der Universität München und seit 10 Jahren halten Sie die Köthener Sommerkurse. Wie sind Sie eigentlich zur Homöopathie gekommen?

Josef M. Schmidt: Mein erster Kontakt zur Homöopathie kam über Vorträge von Artur Braun, Otto Eichelberger und Will Klunker in den 1970er-Jahren zustande, im Rahmen von ärztlichen Weiterbildungskursen, die auch für Studenten offen waren. Erfahren hatte ich davon durch die Münchner Fachschaft Medizin, die damals vielfältige Angebote organisierte, alternative bzw. komplementäre Heilmethoden wie Akupunktur, manuelle Therapie, Neuraltherapie, Phytotherapie, Hypnose oder auch Homöopathie kennenzulernen. Weil man aber nicht immer alles sofort monoman vertiefen kann, ließ ich es zunächst bei meinem positiven Eindruck bewenden, absolvierte mein Staatsexamen und meine Promotion (1980), trat meine ersten Assistenzarztstellen an und kündigte diese alsbald desillusioniert, um mich erst einmal ganz dem Studium der Philosophie zu widmen.
Unter den Hörern der Vorlesungen des Münchner Philosophen Eberhard Simons befand sich der homöopathische Arzt Thomas von Grudzinski, der mich auf die Hahnemann-Biografie von Herbert Fritsche aufmerksam machte, mir die ersten 3 Bände von Harris L. Coulters „Divided Legacy“ schenkte und mich motivierte, die Homöopathie von Grund auf und im Detail zu erlernen. Zügig besuchte ich die Kurse von fast allen Koryphäen der homöopathischen Szene der 1980er-Jahre: Michael Barthel in Berg (11 Wochenenden à 20 Stunden), Horst Barthel in Wilhelmsfeld, Jost Künzli von Fimmelsberg, Manfred von Ungern-Sternberg und Max Tiedemann in Spiekeroog, Mathias Dorcsi u.a. in Baden bei Wien, George Vithoulkas in Bern, Wolfgang Springer in Dießen, Martin Stübler, Christa von der Planitz u.a. in Bad Brückenau, Gerhard Köhler, Willibald Gawlik u.a. in Baden-Baden, Karl-Heinz Gebhardt in Bad Herrenalb, Dario Spinedi, Gerhard Resch, Otto Eichelberger, Will Klunker u.a. in München, ebenso wie Artur Brauns Vorlesungen an der LMU über 4 Semester. 1985 erwarb ich die Zusatzbezeichnung „Homöopathie“.
Nach meiner Promotion in Philosophie (1989) konnte ich als Arzt am Krankenhaus für Naturheilweisen in den wöchentlichen Chefarzt- und Oberarztvisiten von Benno Ostermayr und Arthur Wölfel meine Homöopathiekenntnisse vervollständigen und alljährlich auf den Münchner Homöopathietagen Jürgen Hansel, Rajan Sankaran, Jan Scholten, Alfons Geukens u.a. hören. Auf internationalen Kongressen besuchte ich Vorträge und Seminare von Klaus-Henning Gypser, Jacques Baur, Alfonso Masi-Elizalde, Proceso Sanchez Ortega, Roger Morrison, Bill Gray, André Saine, David Reilly, Peter Fisher, Jürgen Becker, Walter Köster u.v.a.m. Begleitend zum persönlichen Unterricht durch meine vielen Lehrer arbeitete ich mich sukzessive in die homöopathische Literatur ein, sowohl in die aktuelle als auch in die klassische.

Warum interessierten Sie die Geschichte und die philosophischen Grundlagen der Homöopathie?

Aufgrund meines sehr breit angelegten praktischen Studiums der zeitgenössischen Homöopathie wurde schnell klar, dass es angesichts des Pluralismus verschiedener Richtungen und beträchtlicher Widersprüche in der Lehre eines roten Fadens bzw. eines Kriteriums zur Differenzierung und Beurteilung der einzelnen Ansätze und Positionen bedurfte. Im Fall der Homöopathie lag nichts näher, als zu den Wurzeln zurückzugehen, zumal sich alle ihre Vertreter auf den Begründer Samuel Hahnemann und sein Organon berufen. Durch eine historische Rückverfolgung der Entwicklung der Homöopathie sollten sich ihr geschichtlicher Ursprung wie auch die Verzweigungspunkte späterer Schulbildungen identifizieren, begreifen und bewerten lassen.
Wie sich herausstellte, mussten vor einer fundierten Analyse von Hahnemanns Werk allerdings erst diverse wissenschaftliche Kärrnerarbeiten verrichtet werden, weshalb ich zunächst eine vollständige Hahnemann-Bibliografie und die textkritische Ausgabe des Organons der Heilkunst (dessen Manuskript sich in San Francisco befindet) und später noch eine Sammlung seiner Gesammelten Kleinen Schriften (zusammen mit Daniel Kaiser) erstellte und herausgab. Erst auf der Basis verlässlicher Grundlagenwerke wie dieser konnten dann tragfähige wissenschaftliche Arbeiten zu einzelnen Themen, etwa zu den philosophischen Vorstellungen Hahnemanns, erscheinen.
Dass der konventionelle schulmedizinische Ansatz mit seinen reduktionistischen Kategorien und Methoden im therapeutischen Alltag oft schnell an seine Grenzen stößt, hatte ich schon in den ersten Semestern meines Medizinstudiums bemerkt und mich auf die Suche nach Ergänzungen begeben. Mit der Homöopathie liegt nun ein Heilsystem vor, das offenbar mehr kann als mit gewöhnlichem materialistischem Denken zu begreifen ist. Das philosophisch Faszinierende daran ist, dass – abgesehen von den Erfolgen in der Praxis – auch Hahnemanns Theorie sich als durchaus rational, konsistent und robust gegen naturalistische Anfechtungen erweist, wenn man sich denn auf seine Aussagen im Original konzentriert und die größtenteils fehlerhafte Sekundärliteratur ausblendet.
Die Beschäftigung mit Hahnemanns Gedankenkosmos hat indes auch einen erzieherischen Wert: Sie lässt uns an einer geistigen Welt teilhaben, die auch von anderen starken Persönlichkeiten mit großen Gedanken, edlen Zielen und strikten Prinzipien getragen wird. Für Homöopathen heute könnte der wiederholte und vertraute Umgang mit den hier verkörperten Tugenden eine Kraft- und Inspirationsquelle darstellen.

Sind Sie als Arzt auch klinisch tätig?

Nach meinen ersten klinischen Erfahrungen als Assistenzarzt (1981), in einer Privatklinik wie auch an der Universitätsklinik, vermisste ich schmerzlich ein geisteswissenschaftliches Gerüst zur theoretischen Durchdringung der medizinischen Praxis. In meinem anschließenden Studium der Philosophie, Theologie und Geschichte der Medizin lernte ich vieles, was sich später als nützlich erweisen sollte, unter anderem methodisches Arbeiten im Bereich der Philologie und Textkritik.
Als ich wieder klinisch (und homöopathisch) tätig wurde, versuchte ich, neben meiner Arbeit als Stationsarzt am Krankenhaus für Naturheilweisen meine wissenschaftliche Arbeit fortzuführen, was allerdings nur an Wochenenden sowie in Nachtdiensten möglich war. Weil auch das nicht reichte, arbeitete ich sogar auf Fortbildungsreisen und in meinen Jahresurlauben z.B. an der Herausgabe meiner Dissertation oder las die Korrekturfahnen des von mir neben meiner klinischen Arbeit erstellten Bibliothekskatalogs (1990). Mein Traum einer Kombination von Klinik und Wissenschaft hatte sich als überaus kräftezehrend erwiesen.
Nachdem ich während meines einjährigen Forschungsaufenthalts (1992) an der University of California, San Francisco (UCSF) vor allem historisch-kritisch an der Herausgabe des Organons arbeitete (ohne ECFMG-Examen darf man in den USA ohnehin nicht ärztlich tätig sein), praktizierte ich nach meiner Rückkehr nach München wieder klinisch, unter anderem in einer homöopathischen Kassenpraxis, wo ich nach den regulären Sprechzeiten zahlreiche biografische Anamnesen chronischer Fälle erhob und bei meinen Fahrten im ärztlichen Notdienst – soweit indiziert und verantwortbar – auch homöopathische Einzelmittel verabreichte. Nach meiner Facharztprüfung zum Allgemeinarzt (1994) arbeitete ich weiter klinisch, jetzt als Prüfarzt für Homöopathiestudien am Krankenhaus für Naturheilweisen. Wieder gelang es mir kaum, nebenher meine geisteswissenschaftlichen Studien und Arbeiten weiterzutreiben. Wichtige, zuvor schon weitgehend abgeschlossene Grundlagenwerke konnten daher erst im Jahr 2001 erscheinen (TAH, GKS) und meine sonstigen Publikationen aus jener Zeit bestanden – abgesehen von den klinischen Heilfasten- und Thyreoidinum-Studien – bald nur noch aus Kongressberichten, Kommentaren und Ähnlichem.
Erst nach meinem Ausscheiden aus dem Krankenhaus (2003) hatte ich, als freier Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der LMU, wieder den Freiraum, genuin wissenschaftliche Werke zu verfassen, mich zu habilitieren (2005) und schließlich die Bestellung zum außerplanmäßigen Professor zu erreichen (2013). Meine Vision von früher, einmal vormittags zu praktizieren und nachmittags Wissenschaft zu treiben, ist also – bis jetzt – nicht aufgegangen. An den Universitäten haben die Ansprüche mittlerweile derart angezogen (peer review, impact factors, publish or perish etc.), dass sich nur halten kann, wer sich ganz in sein Fach vertieft. Würde ich jetzt wieder in die Klinik oder Praxis gehen, hätte die Homöopathie zwar einen zusätzlichen Praktiker, aber keinen Theoretiker mehr an der Uni. Mit letzterer Option ist meines Erachtens der Sache der Homöopathie langfristig mehr gedient.

Meines Wissens sind Sie der einzige Universitätsprofessor in Deutschland, der sich mit dem Thema Homöopathie habilitiert hat?

An deutschen Universitäten beschäftigen sich etliche Professoren mit komplementären und alternativen Heilverfahren und teilweise auch mit Homöopathie, doch gibt es meines Wissens niemanden, der/ die erstens homöopathische/r Arzt/Ärztin ist und sich zweitens mit einem Werk über die Homöopathie habilitiert hat. Meine Habilitationsleistung bestand nicht in einer einzelnen Monografie, sondern aus „mehreren Fachpublikationen mit dem einer Habilitationsschrift entsprechenden wissenschaftlichen Gewicht (kumulative Habilitationsleistung)“, wobei es in 24 meiner eingereichten Originalarbeiten und Bücher um die Homöopathie ging – freilich aus den verschiedensten medizinhistorischen und medizintheoretischen Perspektiven. Indem ich zeigen konnte, dass die Homöopathie ein legitimer Gegenstand seriöser Wissenschaft ist, dessen adäquate Erfassung nicht trivial, sondern methodisch sogar besonders anspruchsvoll ist, gelang es mir, sie als Teil des Faches Medizingeschichte an einer deutschen Exzellenzuniversität zu etablieren.
Nachdem seit den Vorlesungen von Johann Joseph Roth, Joseph Reubel, Ludwig Ditterich und Oskar Mahir in den 1820er-Jahren und einer Honorarprofessur von Joseph Buchner im Jahr 1851 an der Münchener Universität so gut wie keine offiziellen Lehrveranstaltungen zur Homöopathie mehr stattgefunden hatten, erhielt ich aufgrund meiner vorgelegten Publikationen zur Homöopathiegeschichte von der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) 2005 die Venia Legendi für Geschichte der Medizin, womit ich seitdem befugt bin, nach freiem Ermessen auch die Homöopathie (im geschichtlichen Kontext) zu erforschen und zu unterrichten.

Sie unterrichten seit 50 Semestern Homöopathie an der LMU München?

Nicht nur Homöopathie. Meine ersten wöchentlichen Seminare zur Geschichte der Homöopathie fanden im Wintersemester 1990/91 und im Sommersemester 1991 an der LMU München statt, mit insgesamt 20 Studenten. Während meines anschließenden Forschungsaufenthalts an der University of California, San Francisco (UCSF), hielt ich dort eine 12-stündige Vorlesungsreihe über „History of Homeopathy in the United States“, vor über 50 eingeschriebenen Medizin- und Pharmaziestudierenden (1992). Ab dem Wintersemester 1992/93 unterrichtete ich dann wieder in München auf der Grundlage eines (unbezahlten) Lehrauftrags „Homöopathie: Geschichte und konzeptuelle Inhalte“, der jedes Semester neu beantragt und genehmigt werden musste, was durchgängig geschah. Ab 2005 erweiterte und variierte ich – nun als Privatdozent – die Themen meiner wöchentlichen Hauptvorlesung (Gesundheit, Naturheilkraft, Medizin der Romantik, Paracelsus, Heilkunst, Wissenschaftstheorie, Kausalität und Ähnlichkeit, Psychosomatik, Medizingeschichte als Kulturgeschichte, Naturheilverfahren usw.), hielt daneben aber – im Rahmen des Longitudinalkurses L8 bzw. Pflichtwahl-Seminars „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ – stets eine Einführung in die Homöopathie Hahnemanns für Studierende des 6. klinischen Semesters.
Ohne Berücksichtigung meiner beiden Auslandssemester (WS 1991/92 und SS 1992) befand ich mich im Sommersemester 2016 also im 50. Semester meiner Lehrtätigkeit an der LMU München. Dass dies im Umfeld der Homöopathie ziemlich einzigartig ist, mag damit zusammenhängen, dass man – ob mit „Leer“auftrag, als „Privat“dozent oder „außerplan“mäßiger Professor – bei einem „Privat“vergnügen wie diesem „außer“halb von „Plan“stellen agiert und ökonomisch gesehen daher „leer“ ausgeht. Circa 1000 Vorlesungsstunden ohne jede Vergütung sind eben nicht jedermanns/-fraus Sache.

Stimmt es, dass alle Ihre Einzelschriften kostenfrei verfügbar sind?

Für die Herausgabe meiner gesammelten Schriften zur Geschichte und Theorie der Homöopathie in 6 Bänden, die soeben erschienen sind, waren diverse Vorarbeiten nötig. Neben meinen seit Längerem vergriffenen Monografien, wie die Disseration zur Philosophie Hahnemanns oder der Taschenatlas Homöopathie, mussten vor allem meine gesamten kleinen Schriften, also Zeitschriftenartikel, Buchbeiträge, Vorträge auf Kongressen usw. zusammengetragen, eingescannt und mit OCR-Software bearbeitet werden, bevor sie als Fließtext weiterverarbeitet und neu formatiert werden konnten. Da Angehörige der LMU München dazu ermutigt werden, die eigenen Schriften in elektronischer Form im Repositorium der Universitätsbibliothek hochzuladen, habe ich diese Möglichkeit genutzt und alle meine eingescannten Texte der Allgemeinheit barrierefrei im Internet zum freien Download als PDF zur Verfügung gestellt. Unter Verlagen ist es heute Standard, Autoren dieses Recht zu gewähren, sofern bestimmte Fristen eingehalten werden (green open access).
Der Vorteil der Publikation in dieser Open-Access-Plattform der LMU, die im nationalen Ranking auf Platz 2 von 152 wissenschaftlichen Repositorien und im internationalen Ranking auf Platz 78 von 2000 liegt, ist, dass Suchmaschinen wie die „Bielefeld Academic Search Engine“ (BASE; www.base-search.net) oder Google Scholar (www.scholar.google.de) die dort hochgeladenen Daten übernehmen. Die LMU garantiert die Datenpflege für mindestens 10 Jahre. Das bisherige Ergebnis lässt sich unter http://epub.ub.uni-muenchen.de/view/autoren/Schmidt=3A-Josef_M=2E=3A=3A.html einsehen. Von meiner Website des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin (www.egt.med.uni-muenchen.de/personen/freie_mitarbeiter/schmidt/index.html) kommt man durch Klicken auf „Downloads“ zu denselben Links meiner mittlerweile 150 freigegebenen Schriften.

Wo steht die Homöopathie heute aus Ihrer Sicht?

Die Homöopathie ist zunächst kein Ding, das einen bestimmten Platz im Raum einnimmt, weder stehend noch liegend, sondern ein Phänomen, das je nach Perspektive einzelne Aspekte von sich preisgibt und gleichzeitig andere verbirgt. So erklärt sich, dass Generationen von Praktikern und Theoretikern, Advokaten und Kritikern, Historikern und Philosophen usw. sich an ihr abarbeiten konnten, ohne bis heute zu einem endgültigen Konsens gelangt zu sein.
Wer z.B. an der Homöopathie nichts anderes wahrnehmen kann oder will, als dass hier offenbar keine Arzneistoffmoleküle wirken, wird ihren Status anders einschätzen als beispielsweise ein Patient, der ihr sein Leben verdankt, oder ein Praktiker, der sich der Aufgabe ihrer Vervollkommnung verschrieben hat. Da nicht einmal „Wissenschaft“ ein absoluter, objektiver Rahmen ist, innerhalb dessen sich Phänomene dieser Welt eindeutig definieren und sortieren lassen, sondern vielmehr ein sozialer Prozess, der von den vielfältigen Interessen der beteiligten Akteure bestimmt wird, beruhen auch scheinbar neutrale Fragen wie die nach der Wissenschaftlichkeit der Homöopathie immer schon auf gewissen Absichten und Überzeugungen. Insofern gibt auch ein Editorial in der vermeintlich hochwissenschaftlichen Zeitschrift Lancet mit dem Titel „The end of homeopathy“ (2005) keine Wahrheit, sondern nur die Meinung bzw. das Wunschdenken des Verfassers wieder.
Nichtsdestotrotz lässt sich mit Mitteln kritischer Wissenschaft, sozusagen aus der Metaperspektive eines freien Wissenschaftlers im weitesten Sinne (unter Einbeziehung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften) zeigen, dass die Homöopathie aus philosophischer, erkenntnistheoretischer, medizinhistorischer, sozioökonomischer und gesundheitspolitischer Sicht gar nicht schlecht dasteht. Über die Erweiterung ihres Erfahrungsschatzes und die Verbesserung ihrer Methoden und Techniken hinaus hat sie in den letzten Jahrzehnten beachtliche Erfolge im Hinblick auf Professionalisierung, Institutionalisierung sowie mediale und wissenschaftliche Präsenz erzielt. Gleichwohl bzw. eben deshalb steht sie auch unter vermehrtem Beschuss vonseiten ihrer natürlichen Feinde, deren Spektrum von fundamentalistischen Materialisten und Agnostikern bis zu der nicht mehr kontrollierbaren Eigendynamik eines globalen ökonomischen Egoismus anonymer Marktteilnehmer reicht, die unter dem Euphemismus „big money“ firmiert und nicht nur die Homöopathie, sondern das gesamte Leben auf der Erde bedroht.

Welche Ratschläge geben Sie für die Zukunft?

Im Gegensatz zur konventionellen Iatrotechnologie hat die Lehre, auf die sich Homöopathen berufen, ein menschliches, persönliches Antlitz, denn sie beruht nicht nur auf empirischen Daten und logischen Schlüssen, sondern ist aus dem Ringen eines hochgesinnten Menschen um eine wohltätige und sanfte Medizin hervorgegangen. So sind eben Hahnemanns philosophisch-teleologische Vorstellungen und sein Streben nach „Wohltun“ konstitutiv für die Homöopathie. Ohne sie würde seine Simile-Gleichung nicht aufgehen. Hat man das erkannt, ist Hahnemanns Auftrag „Macht’s nach, aber macht’s genau und sorgfältig nach“ auch auf die Ethik und geistige Gestalt des Meisters zu beziehen. Für Hahnemann bestand der Sinn seines Lebens darin, sich „auf der Leiter beseligender Empfindungen, menschenveredelnder Tätigkeiten und weltendurchschauender Kenntnisse“ „dem großen Urgeist zu nähern“. Wie die Geschichte seines Lebens zeigt, ließ er sich bei der Verfolgung seiner hehren Ziele bzw. der Verwirklichung seiner Mission in der Tat weder von Unannehmlichkeiten wie erhöhtem Arbeitsaufwand oder erzwungenen Umzügen, noch von Spott, Anfeindungen oder finanziellen Durststrecken beirren.
Auf die heutigen Homöopathen übertragen hieße das, selbst bei einem scheinbaren Erstarken oder gar Überwiegen nihilistisch-reduktionistischer Kräfte nicht in Defätismus zu verfallen oder opportunistisch jeder Wendung des Zeitgeistes nachzugeben, sondern auch bei stärkerem Gegenwind – vom Geist des Guten beseelt – sich umso klarer auf das eigene Erbe, die eigenen Stärken und den heiligen Ernst zu besinnen, mit dem sich Hahnemann bis zuletzt für die Reinhaltung seiner Lehre eingesetzt hat. Diese Grundhaltung des Festhaltens an einmal als richtig erkannten Ideen und Prinzipien sollte keineswegs als Wissenschaftsfeindlichkeit oder Immunisierung gegen Kritik missverstanden werden. Auch Hahnemann blieb offen für Anregungen in Detailfragen, deren Wert sich empirisch überprüfen ließ.
Dringend ratsam wäre allerdings, Grundprinzipien der Homöopathie, die nicht zur Disposition stehen können (wie Arzneimittelprüfungen an Gesunden, Einzelmittel, Simile-Prinzip und kleinste Gaben), von späteren Ergänzungen und Ausdifferenzierungen, die sich kontrovers diskutieren lassen (wie Hering’sche Regel, Kents Arzneimittelbilder oder verschiedene Potenzierungsverfahren), zu differenzieren und nicht in gleicher dogmatischer, sondern in abgestufter Art und Weise zu vertreten. Erst recht sollten hochspekulative und esoterische moderne Richtungen nicht mit Homöopathie als solcher gleichgesetzt werden, da dies – wie erst jüngst geschehen – überflüssige Missverständnisse provoziert und von den Gegnern sogleich dazu benutzt wird, das Kind mit dem Bade auszuschütten, das heißt, die Homöopathie als Ganzes zu diskreditieren.
Homöopathen wären gut beraten, sich sowohl um gute klinische Praxis als auch um eine gute Theorie zu bemühen. Das war jedenfalls Hahnemanns Anspruch, als er 1805 Gregor von Nazianz zitierte mit den Worten: „atelès álogos práxis kaì lógos ápraktos“, um zu verdeutlichen, dass „weder theorielose Praxis noch praxislose Theorie zum Ziel führt“. Die Adoption einer richtigen oder falschen Theorie kann auf lange Sicht über Gedeih und Verderb einer Heilmethode entscheiden. Fällt man z.B. darauf herein, von der Anwendung randomisierter Doppelblindstudien den Durchbruch in der Anerkennung der Homöopathie zu erhoffen, wird man ihr damit wahrscheinlich einen Bärendienst erweisen, zumal dieser neue, mit den Prinzipien der Homöopathie inkompatible, methodische „Goldstandard“ nach dem Zweiten Weltkrieg genau zu dem Zweck erfunden wurde, die Homöopathie als Placebotherapie erscheinen zu lassen (Cornell Conference on Therapy 1946).
Statt sich in das methodische Prokrustesbett der Gegner zu fügen und dadurch das Wesen und die Stärken der Homöopathie preiszugeben, sollte sie vielmehr als praktische Handlungswissenschaft sui generis (Heilkunst) bzw. als „deuteros plous“ (zweitbeste Fahrt, nach dem „Königsweg“ direkter Ursachenbeseitigung) der Arzneitherapie und das Simile-Prinzip nur im Konjunktiv(curentur: möge behandelt werden), das heißt als Handlungsmaxime, nicht als Naturgesetz, vertreten werden. Mit medizintheoretischen Positionen wie diesen ließe sich die Homöopathie von einem Großteil ihrer Anfeindungen, die meist auf naturalistischen Fehlschlüssen, undurchdachten „Dreifachblindstudien“ oder schlichter „Apaideusía“ (Ungebildetheit) beruhen, abschirmen und bewahren. In meinen Schriften zur Geschichte und Theorie der Homöopathie finden sich diese und weitere Argumente näher ausgeführt.

Herr Professor Schmidt, wir danken Ihnen für das spannende Interview!

Vielen Dank für Ihre anregenden und interessierten Fragen!

Das Interview führte Michael Teut

Schmidt JM. Schriften zur Geschichte und Theorie der Homöopathie. 6 Bände. München, Greifenberg 2016

  • Band 1: Die Philosophie Samuel Hahnemanns bei der Begründung der Homöopathie

  • Band 2: Kompaktwissen Homöopathie – Grundlagen, Methodik und Geschichte

  • Band 3: Die Köthener Sommerkurse Homöopathiegeschichte 1–10 (2006– 2015)

  • Band 4: Gesammelte kleine Schriften. Teil 1 (1988–2003)

  • Band 5: Gesammelte kleine Schriften. Teil 2 (2005–2015)

  • Band 6: English Articles and Abstracts (1988–2015)

“Aktualisierte Version vom 29.12.2016“