intensiv 2016; 24(03): 126-127
DOI: 10.1055/s-0042-103505
Kolumne · Rechtsticker
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kolumne · Rechtsticker

Heidi Günther
,
Tobias Weimer
1   WEIMER I BORK – Kanzlei für Medizin-, Arbeits- & Strafrecht, Frielinghausstr. 8, 44803 Bochum, Email: info@kanzlei-weimer-bork.de   URL: www.kanzlei-weimer-bork.de
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03 May 2016 (online)

KOLUMNE

Halb zehn in Deutschland

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(Paavo Blåfield)

Die Kunst des Ausruhens ist ein Teil der Kunst des Arbeitens.
(John Steinbeck (1902–1968), amerikanischer Schriftsteller)

Es ist immer dasselbe. Jeden Monat denke ich darüber nach, über welches Thema ich mich in meiner nächsten Kolumne auslassen könnte. Immer gut geeignet (oder gerade nicht) ist die tagesaktuelle oder große Politik. Oder soll es etwas über Patienten im Allgemeinen oder im Besonderen oder über die Familie werden? Selbst das Wetter gibt immer wieder etwas her. Nein, dieses Mal nicht! In dieser Kolumne will ich mal ein ganz heißes Eisen anfassen – und zwar das leidige Thema Arbeitspausen. Und um dem noch eins draufzusetzen: Pausen im Stationsalltag. Und die Idee dazu kam so:

Während eines Frühdienstes saß ich um 8 Uhr in unserem Aufenthaltsraum am mehr oder weniger gedeckten Tisch. Ich wartete auf meine Kollegen, die noch oder schon wieder auf der Station herumschwirrten, und ließ meinen Blick schweifen. „Gedeckter Tisch“ heißt bei uns ein Sammelsurium an mehr oder weniger geschmackvollen Tassen, dazu nicht passende Teller. Die Tassen sind natürlich personenbezogen und es kommt schon mal zu leichter Hysterie, sollte die eigene Tasse nicht gleich gefunden werden. Ich würde es zum Beispiel nie wagen, die „Äffchentasse“ meiner Kollegin Maria für mich zu beanspruchen. Dafür weiß aber auch jeder, dass die geblümte Doppeltasse mir gehört. Leider macht die es wohl nicht mehr lange. Der große Sprung im Innern weitet sich langsam aus. Andere Kollegen bleiben ganzjährig ihrer Weihnachtstasse treu. Ich bin nur froh, dass wir derzeit keine Tasse mit einer Diddl-Maus oder einem flapsigen Spruch wie „Held der Arbeit“ im Rennen haben. Diverse Marmeladengläser reihen sich aneinander. Natürlich immer mit selbstgemachter Marmelade, die entweder von den Kollegen oder deren Müttern oder Großmüttern mit Liebe gekocht wurde. Müslischüsseln, gefüllt mit oft nicht zu definierender Pampe, die sich dann die gesundheitsbewussten Kollegen mit verzerrter Miene reinschaufeln und dabei beteuern, wie gut es angeblich schmeckt, dürfen auch nicht fehlen. Insgesamt sieht unser Frühstückstisch also nicht besonders einladend aus. Aber das ist nur das kleinere Übel. Wenn wir es doch nur einmal schaffen würden in Ruhe zu frühstücken!

Wir haben vor Jahren viele Möglichkeiten ausprobiert, um eine im Stationsalltag günstige Zeit für unser Frühstück zu finden, und fanden es eigentlich relativ pfiffig, dann zu frühstücken, wenn es die Patienten auch tun. Da haben wir allerdings die Rechnung ohne den Patienten an sich gemacht. Obwohl unsere Patienten zwischen etwa 6.30 Uhr und 8 Uhr von uns geweckt und, wenn nötig, ins Bad mobilisiert werden, die Visite stattfindet und das Frühstück und die Medikamente ausgeteilt werden und wir annehmen könnten, dass alle jetzt für die nächste halbe Stunde zufrieden mit ihrem Frühstück zu tun haben sollten, klingelt es auf Station oft im Minutentakt. Der eine wünscht noch eine zweite Tasse Kaffee, ein anderer fragt, ob man nicht die gelbe Marmelade in eine rote tauschen könnte. Manchmal dürfen wir auch das Fenster schließen, weil es im Rücken zieht, oder andere lebenswichtige Dinge tun. Dann das Telefon! Das Röntgen ruft Patienten ab, das Labor hat mal eben eine Frage und Angehörige hätten gern Auskunft über die Befindlichkeit ihrer Familienmitglieder. Dann kommen noch diverse Ärzte vorbei und wollen irgendwas, begleitet von einem leichtherzigen Bedauern, dass sie gerade beim Frühstück stören. Oft geben wir dann genervt auf und gehen wieder an die Arbeit. Man kann ja zwischendurch noch mal von dem Brötchen abbeißen und einen Schluck vom kalten Kaffee nehmen. Soll ja schön machen.

Dabei hat sich der Gesetzgeber richtig Mühe gemacht, um eine Pause während der Arbeit zu definieren. Im Arbeitszeitgesetz ist alles ganz genau festgehalten. Wer wie viele Minuten Pause während seiner Arbeitszeit hat und wie und wo die zu verbringen ist. Schön finde ich, dass in den Technischen Regeln für Arbeitsstätten, genauer: in der ASR A4.2 sogar geregelt ist, wie die Räume auszusehen haben und ausgestattet sein sollten. Bis hin zu den Regelungen, dass ein Sozialraum, in dem Fall wohl unser Aufenthaltsraum, mindestens 1 m² pro Person bieten muss (ich will ja nicht zynisch klingen, aber gibt es ähnliche Regelungen nicht auch für Hühner?). Auch bei der Ausstattung gibt es merkwürdige Forderungen. Die bereitgestellten Sitzgelegenheiten müssen 35–45 cm tief und 60 cm breit sein, die Sitzflächen gepolstert und abgerundet, und (jetzt wird es ganz absurd!) die Füße, also unsere, müssen den Boden erreichen können. Schön, dass das alles ganz genau irgendwo nachzulesen ist. Nur, wie wir eine Pause, also eine Unterbrechung, Erholung und Abstand vom Arbeitsrhythmus gestalten sollen, steht nirgendwo. Sogar Gerichte befassen sich immer wieder mit der Frage, wann im Pflegebereich die Voraussetzungen für eine Pause im Sinne des Arbeitsgesetzes vorliegen. Aber eine zufriedenstellende Lösung für uns haben weder Gerichte und auch wir noch nicht gefunden. Immerhin werden in unserem Haus die Pausen im Nachtdienst als Bereitschaft abgerechnet und bezahlt. Das ist ja wenigstens was.

Ach, ich könnte jetzt noch unendliche Ausführungen zu diesem Thema machen. Zum Beispiel auch über die Geschichte der Arbeitspausen an sich. Denn das, was wir für selbstverständlich halten, war bis Ende des 19. Jahrhunderts undenkbar – und das bei Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden täglich. Der Weg zu den heutigen Pausenregelungen war für die Gewerkschaften von damals ein beschwerlicher.

Da sollte ich mich wirklich weniger über unsere Situation beschweren oder mich gar an den hässlichen Tassen aufhalten. Immerhin kann ich mir ja, wann immer ich will, eine Tasse Kaffee aus unserem Automaten holen. Und nein, ehe sich jemand wundert, so ein Automat gehört nicht zu den in irgendwelchen Richtlinien und gesetzlichen Vorgaben für die Ausstattung eines Aufenthaltsraum. Den haben wir uns schön selbst gekauft.

In diesem Sinne,

Ihre
Heidi Günther
hguenther@schoen-kliniken.de