Allgemeine Homöopathische Zeitung 2016; 261(02): 24-25
DOI: 10.1055/s-0041-111754
Spektrum
Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart

Interview mit Dr. Dario Spinedi anlässlich des 100. Todesjahrs von J.T. Kent

Clinica St. Croce
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Publication Date:
26 September 2016 (online)

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Dr. Dario Spinedi

Anne Sparenborg-Nolte: Wie lange existiert die Clinica St. Croce, wie lange leiten Sie sie und welche sind die häufigsten Diagnosen, die behandelt werden?

Dario Spinedi: Die Clinica Santa Croce existiert seit 20 Jahren. Ich leite sie seit dem Beginn im Jahre 1997. Die häufigsten Diagnosen, die wir behandeln, sind onkologische Diagnosen in allen Stadien, aber auch andere chronische Erkrankungen aus allen Bereichen der Medizin.

Können Sie bitte Ihren eigenen Werdegang zur und innerhalb der Homöopathie beschreiben?

Meinen Werdegang kann ich wie folgt beschreiben: Medizinstudium an der Universität Zürich. 2 Jahre Praxis in diversen Kliniken. 15 Jahre Studium der Homöopathie bei Dr. Jost Künzli von Fimmelsberg (1977–1992). Ab 1990 viele Seminare in ganz Europa, Armenien, Türkei, Israel. Ab 1993 Gründung einer homöopathischen Schule im Kanton Tessin. Ab 1997 Leitung der homöopathischen Abteilung der Clinica Santa Croce. Ab 2005 enge Zusammenarbeit mit der Klinik der Dres. Pareek in Agra (Indien).

Wie sieht derzeit Ihre Arbeit mit Patienten der Klinik konkret aus?

Meine Klinikarbeit verbringe ich zurzeit vor allem als Supervisor der jüngeren Kollegen. Derzeit supervidiere ich eine erfahrene Psychiaterin, da wir uns in Zukunft intensiver mit psychiatrischen Fällen beschäftigen wollen. Daneben habe ich eine große ambulante Praxis.

Hatten Sie einen oder mehrere für Sie wichtige Lehrer?

Mein wichtigster Lehrer war Dr. Künzli. Andere Homöopathen haben mich in manchen Bereichen inspiriert, dazu zählt auch Rajan Sankaran. In den letzten Jahren lerne ich unter der erfahrenen Leitung der Dres. Pareek aus Agra, mit schweren Pathologien umzugehen.

Dr. Spinedi, Sie stehen über die Linie Kent – Austin/Gladwin – Pierre Schmidt – Künzli in der direkten Traditionslinie von Kent. Gibt es in Ihrer Arbeit Anlehnungen an Kents Lehre, Erweiterungen, Einschränkungen oder eine ganz andere Entwicklung?

Die Lehre von Kent ist der Grundstock unserer Arbeit. Vor allem bei der Behandlung der chronischen Krankheiten kenne ich keine bessere Methode als die Kent-Methode: Einzelgaben auswirken lassen, Hochpotenzen nach seiner berühmten Skala. So wie Pierre Schmidt und Künzli gearbeitet haben, so arbeite ich nun seit 35 Jahren mit großer Befriedigung.In der Klinik arbeiten wir mit der letzten Entdeckung Hahnemanns in Paris: mit den Q-Potenzen, die man täglich geben kann. Sobald der Patient keine Metastasen und keinen Krebs mehr aufweist, gehen wir gerne auf die Kent-Skala über mit Hochpotenzen. Damit haben wir sehr gute Erfahrungen.

Gibt es bestimmte Grundsätze oder Richtlinien, die Sie für eine homöopathische Behandlung chronischer Krankheiten als unerlässlich betrachten und an Ihre Schüler weitergeben?

Wenn man eine sichere und zuverlässige Methode innerhalb der modernen Homöopathie nennen sollte, um chronische Krankheiten zu behandeln, dann würde ich, ohne zu zögern, dasselbe sagen wie mein Lehrer Dr. Künzli bereits beim Ligakongress in San Francisco: die Kent-Methode, mit einer 150-jährigen Tradition in einer klaren Linie.Dies bedeutet für meine Schüler praktisch:Studium des Bandes I der Chronischen Krankheiten von Hahnemann sowie des Organons 6. Auflage mit den Grundsätzen über die Anwendung der Q-Potenzen.Studium der Theorie von Kent (Kents Vorlesungen über Hahnemanns Organon), speziell die praktischen Kapitel: Fallaufnahme, Wertung der Symptome, Reaktion auf die Mittelgabe, Studium des Repertoriums von Kent, Studium der Materia medica von Kent. Diese Werke sind „das Herz“ der Homöopathie.Studium der Kasuistiken mit langen Follow-ups von zuverlässigen Autoren.

Wie sehen Sie den Bezug zwischen Hahnemann und Kent?

Der Bezug zwischen Hahnemann und Kent ist fließend, ich sehe keine Widersprüche und Unstimmigkeiten, nur eine Weiterentwicklung, wie es Hahnemann in einem Brief an Bönninghausen schon auf prophetische Art und Weise vorausgesehen hatte:2015 hat sich die Geburt (1915) meines geliebten Lehrers Dr. Künzli zum 100. Mal gejährt. So fallen die 100 Jahre nach dem Tod von Kent fast zusammen mit den 100 Jahren nach der Geburt von Dr. Künzli: Dieser interessante Zusammenhang ist mir erst jetzt aufgefallen, bei diesem Interview.

Künzli ist also etwa ein ¾ Jahr vor Kents Tod zur Welt gekommen. Um Künzli noch mehr in Erinnerung zu rufen, möchte ich Sie bitten, uns eine ganz persönliche Erinnerung an Künzli zu beschreiben.

Ich möchte Ihnen die Geschichte erzählen, die aus einem Saulus einen Paulus der Homöopathie mit mir gemacht hat:Meine Frau hatte bei einer Geburt solche Komplikationen, dass man einen Kaiserschnitt ausführen musste. Dabei entstand eine Blutvergiftung: Meine Frau hatte 41 ° Fieber und starken Schüttelfrost. Das Gremium der Ärzte der gynäkologischen Abteilung und der Professor beschlossen, ihr Kortison und eine Dreierkombination von Antibiotika zu geben. Ich war damals Medizinstudent im letzten Jahr.Meine Frau bat mich, Dr. Künzli anzurufen. Ich tat es und er sagte mir: „Nehmen Sie bitte Ihre Frau nach Hause und beobachten Sie die Symptome.“Die Ärzte drohten mir, dass ich, sollte meiner Frau etwas geschehen, nicht mehr weiter Medizin studieren könne und noch dazu ins Gefängnis käme. Meine Frau, schlotternd vor Fieber, musste ein Formular unterschreiben, um entlassen zu werden.Mit einem Nachbarn trugen wir meine Frau nach Hause – die Flaschen für das Abfließen des Wundsekrets waren noch angeschlossen. Zu Hause angekommen rief ich Dr. Künzli an und fragte, was ich nun tun sollte: Das Kind schrie und meine Frau war halb bewusstlos aufgrund des hohen Fiebers. Er sagte: „Legen Sie das Kind zum Saugen an.“ Dies tat ich, merkte aber, dass es ganz gelb war. Dr. Künzli sagte: „Geben Sie Chamomilla C 200 und achten Sie auf die Symptome Ihrer Frau.“Mit der Zeit merkte ich, dass jedes Mal, wenn ich die Tür Ihres Zimmers öffnete, sie anfing zu husten, und wenn ich hinausging, hörte sie damit auf. Sie hatte auch sehr starke Narbenschmerzen und hohes Fieber.Nach einem Anruf bei Dr. Künzli sagte er mir, ich solle ihr Phosphorus C 30 geben (Cough nervous, when someone enters the room: entdeckte ich später im Repertorium, einziges Mittel Phosphorus).Fazit: Am nächsten Tag war meine Frau komplett entfiebert, hatte keine Narbenschmerzen mehr und ich konnte die Drainage und die Flaschen entfernen. Das Kindlein war nicht mehr gelb.Rückblickend denke ich mir heute: Was für eine Verantwortung hat mein Lehrer auf sich geladen, welches Vertrauen musste er in die Homöopathie haben. Das werde ich ihm nie mehr vergessen.

Dr. Spinedi, ich danke Ihnen für dieses Interview!

Ich danke für die Möglichkeit, meine Gedanken auszudrücken.

„… das kleine Pflänzchen der Homöopathie wird einst eine große Eiche werden …“

Das Interview führte Anne Sparenborg-Nolte