Nervenheilkunde 2018; 37(11): 826-831
DOI: 10.1055/s-0038-1675713
Übersichtsarbeit
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vertane Chance zur Aufklärung eines dramatischen Kapitels der Psychiatriegeschichte

Der Dokumentarfilm „SPK-Komplex”Failed opportunity to elucidate a dramatic episode in the history of psychiatryThe documentary „SPK-Komplex”
C. Pross
1   Zentrum Überleben, Berlin
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Publication History

eingegangen am: 02 September 2018

angenommen am: 19 September 2018

Publication Date:
30 October 2018 (online)

Zusammenfassung

Der Dokumentarfilm “SPK-Komplex” zeigt interessante historische Filmaufnahmen, dekliniert aber die komplexe und vielschichtige Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg (SPK) (1970–1971) zu einer Schwarz-Weiß-Malerei herunter. Wesentliche Faktoren und Akteure werden ausgeblendet und der Arzt Dr. Wolfgang Huber, Leitfigur des SPK, wird einseitig zum Opfer einer angeblich reaktionären Klinikleitung stilisiert. Der Film unterschlägt, dass die Heidelberger Psychiatrische Universitätsklinik unter dem Chef von Dr. Huber, Prof. Walter von Baeyer, damals eine der fortschrittlichsten der Bundesrepublik und eine Werkstatt der Psychiatriereform gewesen ist. Nach gescheiterter akademischer Karriere zog Huber seine Patienten in einen Rachefeldzug gegen von Baeyer hinein und missbrauchte einen Teil von ihnen als Kampftruppe für seine absurden Vorstellungen von den psychisch Kranken als revolutionäres Subjekt.

Summary

The documentary “SPK-Komplex” shows some interesting historical film footage. However it paints the complex and diverse nature of the Socialist Patients Collective Heidelberg (1970–1971) in black and white. It shields important factors and players and portrays the physician Dr. Wolfgang Huber as the victim of an allegedly reactionary hospital administration. The film suppresses the fact that the Heidelberg University Psychiatric Hospital under its director Prof. Walter von Baeyer was one of the most progressive ones at the time, a laboratory for mental health reform. After a failed academic career Dr. Huber involved his patients in a crusade of revenge against von Baeyer and abused some of them as a task force for his absurd concept of the mentally ill as brigadiers of an anticapitalist revolution.

 
  • Literatur

  • 1 Eine umfassende Historiographie der Psychiatriereform mit Beiträgen damaliger Initiatoren liefert. Kersting FW. (Hrsg.). Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre. Paderborn: Ferdinand Schöningh; 2003
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  • 4 Kretz H. Psychiatrie im Umbruch. Deutsches Ärzteblatt Dezember 2004; 559-560.
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  • 9 SPK-Komplex, Dokumentarfilm, Regie: Gerd Kroske. Salzgeber & Co. Medien GmbH; Berlin: 2018. http://www.fr.de/kultur/kino/der-spk-kom plex-die-krankheit-eines-systems-a-1489383 (16, 17).
  • 10 Basisgruppe/Fachschaft Medizin Gießen (Hrsg.) Sozialistisches Patientenkollektiv Heidelberg, SPK. Dokumentation Teil 2 (Oktober 1970 – August 1971) Gießen/Heidelberg. 1972
  • 11 Demonstration vor der Tür – Innenminister überreicht Bundesverdienstkreuz an Prof. Ritter von Baeyer, Heidelberger Tageblatt vom 3.4.1970, zit. bei 08: 103-105
  • 12 Zeitzeuge 47. Lebenserinnerungen. Unveröffentlichtes Manuskript: 68, zit. bei 08: 299
  • 13 von Baeyer W, Häfner H, Kisker KP. Psychiatrie der Verfolgten. Psychopathologische und Gutachtliche Erfahrungen an Opfern der nationalsozialistischen Extrembelastungen. Berlin: Springer; 1964
  • 14 Auf der Homepage seiner Produktionsfirma realistfilm Berlin kündigte der Regisseur sein Projekt 2015 mit folgendem Kurzexposé an: Vorbereitungsphase Psycho-RAF?. Dokumentarfilm Produktion: Stab. Gerd RKroske, Gerd BKroske. Förderung: BKM (80.000 Produktionsförderung 12/2015)) realistfilm, Berlin.
  • 15 Aust S. Der Baader-Meinhof-Komplex. München: Hoffmann und Campe; 2008: 248-265.
  • 16 Filmemacher Kroske auf der Berlinale “Das SPK hat rebelliert”, taz vom 23.2.2018..
  • 17 http://www.deutschlandfunkkultur.de/gerdkroske-ueber-seinen-dokumentarfilm-spk-komplex-vom.2168.de.html?dram:article_id=415535.
  • 18 von Baeyer W. Die Bestätigung der NS-Ideologie in der Medizin unter besonderer Berücksichtigung der Euthanasie. In: Freie Universität Berlin (Hrsg.) Nationalsozialismus und die deutsche Universität 1966; 63-75.
  • 19 Siehe Kapitel “Ein neues Nazireich verhindern” – Faschismusmetaphern, bei. 08: 297-301
  • 20 Fachschaft Medizin Heidelberg (Hrsg.) Wie bürgerliche Wissenschaft sich selbst reproduziert. Dokumentation zur Neubesetzung des Psychiatrischen Lehrstuhls an der Universität Heidelberg im Sommersemester 1972. Heidelberg 1972, zit. bei 08: 151-152
  • 21 Bauer M. Reform als Soziale Bewegung: Der Mannheimer Kreis und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. In: Kersting FW. (Hrsg.). Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre. Paderborn: Ferdinand Schöningh; 2003: 155-163.
  • 22 Hemminger H. Das therapeutische Reich des Dr. Ammon. Eine Untersuchung zur Psychologie totalitärer Kulte. Stuttgart: Quell Verlag; 1989
  • 23 Schmidbauer W. Zur Geschichte der MAP. Luzifer Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 1991; 04: 118-132.
  • 24 Schlothauer A. Die Diktatur der freien Sexualität. AAO, Mühl-Kommune, Friedrichshof. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik; 1992
  • 25 Zu den Parallelen zwischen dem SPK und diesen Psychosekten siehe das Kapitel “Psychogruppen” bei. 08: 167-173
  • 26 Prof. Rolf Rendtorff, Bundestagskandidat der SPD im Wahlkreis 181, Heidelberg, »Die Auseinandersetzungen um das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) 1969/1970 – Dokumentation und Argumentationshilfe.«. Zusammengestellt von Christian Wolff, Papier undatiert 1976, PA Wolff, zit. bei 08: 150
  • 27 Korrespondenz des Autors mit Christian Wolff. August 2018
  • 28 So einer der Stockholm-Attentäter im Film, wenn er die Geiselerschießungen einen “schweren Irrtum” nennt. Die Frankfurter Psychoanalytikerin Anna Leszcynska-Koenen liefert eine treffende Analyse dieser Haltung am Beispiel von Karl-Heinz Dellwos Beitrag im Buch “Nach dem bewaffneten Kampf”: Dellwo K-H. Kein Ankommen, kein Zurück. In: Holderberg A. (Hg.) Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit. Gießen: Psychosozial-Verlag; 2007: 97-129 Leszcynska-Koenen A. Nach dem bewaffneten Kampf. PSYCHE – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 2007; 62(2).