B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2015; 31(03): 103
DOI: 10.1055/s-0035-1550105
Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Warum wir noch lauter werden müssen:

Körperliche Aktivität ist die einzig wirkliche „Polypille“!
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Publication Date:
26 June 2015 (online)

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Körperliche Inaktivität ist für mehr Tote verantwortlich als Rauchen, Diabetes und Adipositas zusammen. Die zugehörigen Zahlen stammen aus dem Jahr 2009 und aus den USA. Stephen Blair nannte deshalb die körperliche Inaktivität das „größte Gesundheitsproblem des 21. Jahrhunderts“ [[1]]. Es ist davon auszugehen, dass sich inzwischen daran nichts verbessert hat und dass wir in Deutschland vergleichbare Befunde haben. Die Beweisführung wird durch die sträfliche Vernachlässigung der körperlichen Aktivität in unserer Gesundheitsberichterstattung erschwert. Überhaupt zeigt sich eine erhebliche Ignoranz der Entscheider im Gesundheitssystem gegenüber dieser Thematik. Was dagegen nicht fehlt, sind blumige Appelle oder vollmundige Ankündigungen in Festreden. Der echte Wille, körperliche Aktivität nachhaltig und effektiv in die medizinischen Versorgungsstrukturen zu integrieren und damit die unbestreitbaren Potenziale der körperlichen Aktivität im Gesundheitssystem zu nutzen, ist aber nicht mal ansatzweise zu erkennen. Dabei wird die Evidenzlage immer dringlicher und eindeutiger, die Diskrepanz zwischen dem was wir sicher wissen und dem, was wir tun, wird immer größer.

Als Beispiel nur eine kleine Literaturausbeute der letzten 2 Tage:

  • Eine Kohortenstudie aus Norwegen belegt eine deutlich höhere Lebenserwartung für Männer, die körperlich aktiv sind [[2]].

  • Eine einfache Messung der Handkraft genügt als „powerful predictor of future disability, morbidity, and mortality“ [[3]]. Dies findet sich nicht in einem „Bodybuilderblättchen“, sondern im Lancet, dem wissenschaftlichen Flaggschiff der Medizin.

  • Körperliche Inaktivität, insbesondere der sitzende Lebensstil, erhöhen die Wahrscheinlichkeit für depressive Erkrankungen [[4]].

Aber im Zuge einer immer stärkeren Ökonomisierung, Technologisierung, Medikalisierung und Intransparenz der medizinischen Versorgung scheint körperliche Aktivität nach wie vor keine große Rolle zu spielen. Dabei sollte klar sein: Das häufig benutzte Etikett der „evidenzbasierten Medizin“ ist auch immer dann falsch, wenn eine Intervention wie die Förderung der körperlichen Aktivität nicht genutzt wird, obwohl die Wirksamkeit nachgewiesen ist. So ist z. B. die Behandlung eines Diabetikers Typ II nicht evidenzbasiert, wenn Bewegung nicht angemessen genutzt wird!

Wir als Bewegungstherapeuten müssen noch intensiver als Lobby für einen Wandel sorgen und als Anwälte für die Rolle der körperlichen Aktivität innerhalb der Gesundheitsversorgung eintreten. Dies ist grundsätzlich nicht einfach. Noch schwieriger ist es in einem komplexen Gesundheitssystem wie dem unseren, in dem die wichtigen Entscheidungsbefugnisse, Rollen und Pfründe seit Jahren fest vergeben sind. Wir sollten trotzdem beständig versuchen, der körperlichen Aktivität als der einzigen wirklichen „Polypille“ zu mehr Akzeptanz zu verhelfen.

Es lohnt sich!

Editorials haben eigentlich keine Literaturangaben, aus gegebenem Anlass machen wir eine Ausnahme:

Ihr Gerhard Huber

 
  • Literatur

  • 1 Blair SN. Physical inactivity: the biggest public health problem of the 21st century. Br J Sports Med 2009; 43: 1-2
  • 2 Berge E. Increased life expectancy for physically active Norwegians. Br J Sports Med 2015; 49 (11): 702
  • 3 Sayer AA, Kirkwood TB. Grip strength and mortality: a biomarker of ageing? The Lancet 2015. DOI: http://dx doi.org/10.1016/S0140-6736(14)62349-7
  • 4 Zhai L, Zhang Y, Zhang D. Sedentary behaviour and the risk of depression: a meta-analysis. Br J Sports Med 2015; 49: 705-709