Rehabilitation (Stuttg) 2015; 54(01): 60-61
DOI: 10.1055/s-0034-1398518
Aus der DVfR
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nutzung der ICF im deutschen Rehabilitationssystem: Dringende Handlungsfelder für Politik und Rehabilitationsträger[1]

Use of the ICF in the German Rehab System: Imperative Fields of Action for Policy and Rehab Carriers Deutsche Vereinigung für Rehabilitation
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Publication Date:
12 February 2015 (online)

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) wurde bereits im Jahre 2001 von der Weltgesundheitsorganisation verabschiedet. Trotz Verbreitung und großer Akzeptanz des ihr zugrunde liegenden bio-psycho-sozialen Krankheits- bzw. Behinderungsmodells sowie des Bezugs des Sozialgesetzbuches IX auf die ICF ist die konkrete Anwendung und Nutzung der Klassifikation in den Praxisfeldern der Rehabilitation noch deutlich begrenzt und hinter ihren Entwicklungspotenzialen zurückgeblieben. Um die Anwendung bzw. Nutzung der ICF im deutschen Rehabilitationssystem zu fördern und neue Impulse zu geben, hat die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW) ein praxisbezogenes Positionspapier ausgearbeitet. Das Positionspapier wurde im Hauptvorstand der DVfR im März 2014 verabschiedet und auf ihrer Homepage veröffentlicht (siehe www.dvfr.de sowie auch www.dgrw-online.de).

In dem Positionspapier wird ausdrücklich betont, dass die ICF geeignet ist, „die Teilhabeorientierung der deutschen Gesetzgebung und das zentrale Ziel der Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu unterstützen“. Kernpunkt des Positionspapiers ist ein Konzept zur Nutzung der ICF in Rehabilitationseinrichtungen, mit dem Wege für die Anwendung in der Praxis aufgezeigt werden und das stufenweise umzusetzen ist. Zugleich wird erläutert, dass eine intensivere Nutzung nicht nur von den Leistungserbringern abhängt, sondern u. a. auch von der weiteren Ausgestaltung der Rahmenbedingungen, die insbesondere in der Verantwortung von Politik und Rehabilitationsträgern liegen. Aus diesem Grunde appelliert die DVfR nicht nur an die Leistungserbringer, Anregungen zur Nutzung der ICF aufzugreifen. Sie fordert insbesondere die für die Rahmenbedingungen der Nutzung verantwortlichen Institutionen auf, potenzielle Nutzungshindernisse zu beseitigen und die Anwendung in der Praxis zu fördern.

Dies kann nach Überzeugung der Deutschen Vereinigung u. a. durch folgende Maßnahmen und Unterstützungsformen erfolgen, die in den Verantwortungsbereichen von Politik und Rehabilitationsträgern liegen und folgende vorrangigen Handlungsfelder betreffen:

  1. Trotz bestehender Fortschritte ist der Kenntnisstand über die ICF und ihre Nutzung noch zu gering, sodass dringender Schulungs- und Beratungsbedarf besteht. Insbesondere die Rehabilitationsträger sollten deshalb ihre Verantwortung in diesem Bereich stärker wahrnehmen und die Schulungs- und Beratungsangebote ausweiten.

  2. Gegenwärtig existieren sehr unterschiedliche Dokumentationsanforderungen in der Rehabilitation, die zu Doppelbelastungen in den Einrichtungen führen und ICF-kompatible Dokumentationsformen behindern bzw. einschränken. Trägerübergreifende Dokumentationsformen, die sich noch stärker an der ICF orientieren, sollten deshalb stärker unterstützt und entwickelt werden.

  3. Die bisherigen Praxisbeispiele reichen als Modelle für Einrichtungen, die die ICF umfassender nutzen wollen, nicht aus. Die Rehabilitationseinrichtungen sind deshalb immer wieder auf aufwändige eigene und zeitraubende Erfahrungen in der praktischen Nutzung angewiesen. Neben dem Ausbau einer gezielten, anwendungsorientierten Beratung sollten deshalb auch Modellprojekte zur Nutzung der ICF in unterschiedlichen Anwendungsbereichen gezielt gefördert und deren Ergebnisse allgemein zur Verfügung gestellt werden.

  4. Wie die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, hängen Art und Umfang der Nutzung der ICF auch von den gesetzlichen Rahmenbedingungen ab. Im Sozialgesetzbuch IX wird zwar auf die ICF Bezug genommen. Die Anwendung hängt jedoch häufig von der Interpretation der Akteure ab und führt zu unterschiedlichen Ansätzen. Bei einer Novellierung des SGB IX sollte deshalb eine Klarstellung erfolgen.

  5. Gegenwärtig mangelt es bei der Nutzung der ICF im deutschen Rehabilitationssystem an einer übergreifenden Koordination. Vorhandene Ansätze eines Informationsaustausches reichen nicht aus, sodass zurzeit vor allem singuläre Lösungsansätze zu verzeichnen sind. Es wäre deshalb dringend zu wünschen, dass auf ministerieller Ebene eindeutige Verantwortlichkeiten festgelegt werden und bspw. das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation (DIMDI) als Kollaborationszentrum der WHO einen klaren Koordinationsauftrag erhält.

  6. Auch sollte sich die Politik für eine Verbesserung der ICF-Nutzungsrechte bei der WHO einsetzen. In der Praxis führen die Regelungen immer wieder zu Hemmnissen, da auch nicht-kommerzielle Nutzungen von der WHO zu genehmigen sind. Hier sollten generelle Regelungen in Anlehnung an den Regelungsbereich für die Wissenschaften angestrebt werden.

Die gegenwärtige Stagnation in der Nutzung und Anwendung der ICF kann nur durch eindeutige und übergreifende Impulse überwunden werden. Weitere Hinweise sind dem Positionspapier zu entnehmen.

1  Diese Kurzfassung des Positionspapiers: „Nutzung der ICF im deutschen Rehabilitationssystem“ wurde am 10.11.2014 vom Geschäftsführenden Vorstand der DVfR verabschiedet.