Z Geburtshilfe Neonatol 2015; 219(1): 57-58
DOI: 10.1055/s-0034-1397597
Geschichte der Perinatalmedizin
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Öffentlichkeitsarbeit“ – Die Kinderbrutanstalt als Attraktion

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Publication Date:
03 March 2015 (online)

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wollte die westliche Welt ihre Eroberungen in anderen Erdteilen und mit Stolz ihre neuen technischen Errungenschaften vorführen. Weltausstellungen und große regionale Messen wurden dafür organisiert. Geräte und Maschinen wurden gezeigt. Pflanzen und Tiere aus fremden Ländern wurden präsentiert. Aber auch Menschen, die als sehenswert fremd angesehen wurden, führte man vor. Und da war es auch gar nicht so abwegig, der Öffentlichkeit Brutkästen zu zeigen, in denen Frühgeborene aufgezogen wurden. Es wurde der Anspruch erhoben, hier Aufklärung oder sogar Wissenschaft zu vermitteln. So argumentiert z. B. heute noch der Anatom Gunther von Hagens mit seiner Ausstellung „Körperwelten – Die Faszination des Echten“.

Im Folgenden soll nicht erneut über Funktion und unterschiedliche Konstruktionen der Inkubatoren berichtet werden, die einer sozialen und ethischen Aufgabe dienen, sondern wie eine öffentlich wirksame medizinische Erfindung zu einen finanziell einträglichen Unternehmen entwickelt werden kann.

Der berühmte Pariser Geburtshelfer Étienne Stéphane Tarnier (1828–1897) hatte 1878 im Palais Rameau eine Ausstellung von Brutapparaten für Federvieh besucht. Hier kam ihm die Idee, diese Apparate in modifizierter Form für die Aufzucht von zu früh geborenen Kindern zu nutzen. Sein Schüler Pierre Budin (1846–1907) richtete mit ihm die ersten europäischen Zentren für Frühgeburten in Paris ein.

Um ihre Richtlinien zur Behandlung von Frühgeborenen möglichst schnell und in großer Breite bekannt zu machen, kam Budin auf die Idee, seinen jungen Assistenten Martin Couney (1870–1950) zur Weltausstellung 1896 nach Berlin zu schicken, um dort einen modifizierten Tarnier-Inkubator zu präsentieren. Budin gab Couney einen Brief an Adalbert Czerny (1863–1941) mit, in dem er um Unterstützung für seinen Assistenten mit der Berliner Mission bat.

Martin Couney war nun die Idee gekommen, die Ausstellung des Inkubators attraktiver und publikumswirksamer zu machen, indem mehrere Inkubatoren gezeigt würden, mit jeweils einem Frühgeborenen darin. Er bat Czerny, ihm bei der Beschaffung der Frühgeborenen zu helfen. Czerny annoncierte ihn bei der Kaiserin Auguste Viktoria, die die Schutzherrin des nach ihr benannten Kinderhospitals war. Die Kaiserin war einverstanden, und Couney brachte sechs Inkubatoren sowie Schwestern und Pflegerinnen aus Budins Hospital nach Berlin.

„Kinderbrutanstalt“ wurde dieser Beitrag zur Weltausstellung genannt. Er wurde in der Nähe des Eingeborenendorfes aus dem Kongo und den Tiroler Jodlern positioniert. Diese Brutkästen beflügelten die Phantasie der Berliner Öffentlichkeit immens, die Ausstellung war ein Riesenerfolg. Bald wurden in den Bierzelten und Nachtclubs freche Couplets auf die Inkubatoren gesungen.

Der große Erfolg hatte für Couney weitere Einladungen zur Folge. London sollte die nächste Station sein. Doch die englischen Ärzte lehnten es ab, Kinder aus London auszustellen. Couney bat Budin in Paris um Hilfe, die ihm gewährt wurde. Couney durfte drei Weidenkörbe voller Frühgeborener aus Paris über den Kanal nach London transportieren. Damit war die Ausstellung gerettet und wurde ein schlagender Erfolg, 3600 Besucher an einem Tag.

Es gab aber auch Kritik. Die Frage war: Ist es zu verantworten, zwischen wilden Tieren, Clowns und Peep-Show Kinder zu zeigen, die um ihr Leben kämpften und dabei von einem Strom von Besuchern begafft wurden?

Der große Erfolg der Berliner und Londoner Ausstellung brachte Nachahmer auf den Plan. Diese Entwicklung wurde 1897 im „Lancet“ massiv angeprangert. Couney ( [Abb. 1]) scheint die Kritik nicht besonders beeindruckt zu haben. Seine Ausstellung war in den USA, in Turin und 1900 in Paris zur Weltausstellung zu sehen. 1901 ging die Ausstellung nach New York und im gleichen Jahr wurde sie auf der panamerikanischen Expo in Buffalo gezeigt in einem imposanten Gelände, das im Amüsierviertel des Ausstellungsgeländes errichtet worden war. ( [Abb. 2])

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Abb. 1 Martin A. Couney, 1939
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Abb. 2 Ausstellungsgebäude in Buffalo, 1901

Die Ausstellungskosten stiegen kontinuierlich. Couney emigrierte 1903 nach Amerika. Jeden Sommer stellte er in Coney Island im Vergnügungsviertel seine Inkubatoren auf und das über 40 Jahre. Sie waren eine fest eingeplante Attraktion am Atlantik. Anreißer vor dem Ausstellungsgebäude sollten die Besucher zum Eintritt überreden. Einer von ihnen hieß damals Archibald Leach, aus dem später der weltbekannte Kinoschauspieler Cary Grant wurde.

Mit den Jahren ließ das Publikumsinteresse jedoch nach. Die Krankenhäuser stellten in ihren Neugeborenenabteilungen Inkubatoren auf. Ein Inkubator war keine Sensation mehr. Als das New York Hospital eine Frühgeborenenstation einrichtete, beendete Couney seine Ausstellungstätigkeit. Er blieb auf Coney Island bis zu seinem Tod im März 1950.

Wissenschaftliche Anerkennung hatte er nur bedingt erhalten. Finanziell hat sich das Unternehmen aber viele Jahre für ihn gelohnt. Bis zum Jahre 1939 haben nach Aussagen von Couney 1,5 Millionen seine Ausstellungen besucht.

Eine gute Übersicht über die Inkubatoren-Shows der damaligen Zeit hat William A. Silverman 1979 in „Pediatrics“ publiziert.

Volker Lehmann