Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82(8): 437-438
DOI: 10.1055/s-0034-1384919
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Perspektiven psychiatrischer Klassifikation

Perspectives of Psychiatry Classification
J. Klosterkötter
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Publication Date:
08 August 2014 (online)

0Im Nationalen Institut für Seelische Gesundheit der USA (NIMH) hat man die nunmehr erschienene 5. Revision des Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM-V) offenbar mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Das zeigt uns die Reaktion von maßgeblichen Vertretern des dort seit 2008 verfolgten Strategieplans, die im Februar dieses Jahres Anlass zu einer erneuten programmatischen Publikation mit zahlreichen kontroversen Kommentaren gab [1].

Die Verantwortungsträger für DSM-V hätten sich bei ihrer jahrelangen Überprüfung aller relevanten Daten, die der Neufassung dieses Diagnosesystems vorausging, wohl aus Sicht der NIMH-Vertreter schon mehr von einem zentralen Projekt des Instituts leiten lassen sollen. Ziel dieses „Forschungs-Domänen-Kriterien-(RDoC)“-Projekts ist es, eine Kriterienmatrix für diejenigen Forschungsdomänen vorzugeben, aus denen aussichtsreiche Beiträge für eine zukünftige Klassifikation der psychischen Störungen nach dimensionalen Mustern beobachtbaren Verhaltens und neurobiologischen Befunden zu erwarten sind. Natürlich ging keiner seiner Initiatoren und wissenschaftlichen Träger ernsthaft davon aus, dass ein solches Projekt die immer noch deskriptiv-phänomenologisch gefassten psychiatrischen Diagnosekategorien im DSM und in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) schon in naher Zukunft in integrative psychopathologisch-neurowissenschaftliche Dimensionen überführen könnte. Dass sich aber auch sechs Jahre nach der Projektproklamation dann bei der Vorbereitung von DSM-V wieder keiner der vielen zwischenzeitlich untersuchten Biomarkerkandidaten als aufnahmefähig in das Diagnosemanual erwies, wirkte doch enttäuschend. Folgerichtig soll sich die Forschung nun aus Sicht des amerikanischen Instituts noch mehr umorientieren und durch eine auf die RDoC-Matrix ausgerichtete Förderpolitik von der hemmenden Bindung an DSM-V abgelöst werden.

Worum geht es, liebe Leserinnen und Leser, bei dieser klassifikatorischen Debatte, die natürlich aufgrund des weltweiten Einflusses der NIMH-Strategien auch die deutschen und europäischen Forschungsaktivitäten in unserem Fach tangiert. Man hätte doch eher erwartet, das sich der Diskussionsprozess nach der in vielen Ländern von fachlichen Großveranstaltungen und lebhafter Medienresonanz begleiteten Neueinführung von DSM-V erst einmal beruhigt und man sich in den zuständigen Gremien jetzt auf eine analoge Gestaltung von ICD 11 konzentriert. Danach wäre dann wieder der klassifikatorisch stabile Zeitraum angebrochen, in dem sich die psychiatrische Forschung, Lehre und Krankenversorgung weltweit so lange an DSM-V und ICD 11 orientiert, bis die zwischenzeitlichen Erkenntnisse erneut gesichtet werden müssen und es zur nächsten Revision der Diagnosesysteme kommt.

Dass auch DSM-VI und ICD 12 den Revisionsprozess aller Voraussicht nach nicht zu einem befriedigenden Abschluss bringen können, hängt mit seiner Grundidee zusammen, die aus den frühen Pionierzeiten der klinisch-psychiatrischen Forschung am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts stammt [2] [3]. Damals hatten Karl Ludwig Kahlbaum und Emil Kraepelin die Vorstellung entwickelt, dass es sich bei den psychischen Störungen genauso um nosologisch voneinander abgrenzbare Einheiten mit jeweils eigenständiger Symptomatologie, Verlaufsform, Pathogenese und Ätiologie wie bei den Körperkrankheiten handeln müsste. Also sollten sie letztlich auch so klassifiziert werden, wie sie in der Wirklichkeit als „natürliche Krankheitseinheiten“ mit vermutlich hirnpathologischer Genese und neurobiologischer Verursachung vorkommen. Diese Aufgabe ging über die damals mögliche und später von Karl Jaspers deskriptiv-phänomenologisch verbesserte Charakteristik von unterschiedlichen Zustands- und Verlaufseinheiten hinaus und schloss schon jene neurowissenschaftliche Differenzierung mit ein, die nun auch nach mehr als einem Jahrhundert psychiatrischer Klassifikation im DSM-V immer noch nicht erreicht werden konnte. Eben deshalb hatte Kraepelin sehr einsichtsvoll die von ihm erstmals so systematisch ausgearbeiteten Diagnosekategorien vorläufig nur als „brauchbare Begriffe“ gewertet wissen wollen und damit eine Bezeichnung vorgegeben, die auch für den heutigen Entwicklungsstand der psychiatrischen Klassifikation noch zutreffend ist. Mehr als solche brauchbaren und im Zuge der fortlaufenden Revision trotz aller populistischen Kritik sicher auch immer nützlicher gewordenen Begriffe sind die jetzt verabschiedeten und demnächst einzuführenden DSM- und ICD-Diagnosen nach wie vor nicht. Genau daran nimmt die NIMH-Initiative Anstoß und stellt die Frage, ob das wirklich „kategorial“ von Revision zu Revision so weitergehen oder man nicht vielmehr eine andere Marschroute zur Annäherung an die alte Grundidee ätiopathogenetisch valider und damit auch für die Therapie erst richtig nutzbarer Diagnosekriterien einschlagen muss.

Das vorliegende, kürzlich bereits angekündigte [4] weitere Schwerpunktheft unserer Zeitschrift enthält Beiträge, die den aktuellen Stand dieser Debatte am Beispiel der herkömmlich „Schizophrenie“ genannten Störungsgruppe verdeutlichen können. Das gilt vor allem für die Arbeit zur Biomarker-basierten Klassifikation und stratifizierten Therapie [5], aber auch für den ätiopathogenetisch orientierten Beitrag zur aktuellen Fassung der Glutamathypothese [6] und den mehr konzeptionell ausgerichteten Artikel zu den Bemühungen um eine der Störungsgruppe gerecht werdende Verlaufstypologie [7]. Für die Entwicklung der klassifikatorischen Grundidee war die frühe Verlaufsforschung konstitutiv, weil sie damals zur Synthese der neuen, später „Schizophrenie“ genannten Krankheitseinheit führte und damit auch deren dichotomische Abgrenzung von den affektiven, depressiven und bipolaren Störungsformen ermöglichte. Heute spricht dieselbe Verlaufsforschung nach den großen Langzeituntersuchungen schizophrener Störungen wieder eher dafür, die von Kraepelin ja ohnehin auch nur als vorläufig betrachteten Krankheitseinheiten durch einen syndromorientierten Ansatz mit unterschiedlichen Symptomdimensionen und Verlaufstypologien zu ersetzen. Die von den Autoren des diesbezüglichen Beitrags [7] zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, dass sich hinter den Verlaufstypen ätiopathogenetisch unterschiedliche Krankheiten verbergen könnten, ist alt und hat die Schizophrenieforschung von Anfang an begleitet. Diese neuen, uns heute noch unbekannten Pathologien müssten dann aber auch erst einmal herausgearbeitet werden, und das traut sich aus Sicht des hierauf bezogenen Beitrags [5] inzwischen die hirnfunktionelle Bildgebung zu, die auch in der RDoC-Programmatik eine große Rolle spielt. Wenn bei den Schizophrenien – wie bei vielen anderen psychischen Störungen auch – mit dem Einfluss von Gen-Gen- und vor allem auch Gen-Umwelt-Interaktionen auf die Hirnfunktion zu rechnen ist, dann sollte nach Möglichkeit das ganze genetisch-epigenetische, neurokognitive und epidemiologische Methodenrepertoire integrativ zum Einsatz kommen. Die Hirnbildgebung kann ebenso neurosystemische Effekte von genetischen und Umweltfaktoren wie endophänotypische, auch bei gesunden erstgradigen Blutsverwandten vorkommende Hirnfunktionsstörungen etwa des Arbeitsgedächtnisses, der Sprache oder der kognitiven Kontrollfunktion untersuchen. Sie bietet also durchaus schon eine Integrationsmöglichkeit von Forschungsdomänen, wie sie das RDoC-Programm vorsieht und für eine schnellere, erfolgversprechendere Suche nach den postulierten „natürlichen Krankheitseinheiten“ nutzen will. Auch die molekulare und tierexperimentelle Untersuchungsebene lässt sich – auf dem Schizophreniegebiet vor allem durch eine Verschränkung der einflussreichen Dopamin- mit der alternativen und konvergierenden Glutamat-Hypothese – in diese Domänenintegration mit einbeziehen [6].

Ob dann allerdings eine solche konzertierte Aktion, wie das die Autoren dieser Beiträge in Übereinstimmung mit der aktuellen Programmentwicklung in unserem Fach annehmen, auch tatsächlich in absehbarer Zeit eine auf neurowissenschaftlichen Befunden basierende Diagnosestellung ermöglichen wird, bleibt abzuwarten. Bisher sind jedenfalls noch keine derartigen neuen Krankheitseinheiten in Sicht, weder solche, die sich in den mutmaßlich heterogenen DSM-/ICD-Diagnosen verbergen, noch solche, die unterschiedliche Diagnosekategorien dieser Systeme dimensional übergreifen. Dass man gerade in Zeiten methodologischer Innovationen und Durchbrüche intensiv und kreativ nach ihnen suchen muss, steht außer Frage. Nur wenn unsere Diagnostik pathophysiologisch und ätiopathogenetisch definierte Krankheiten erfasst, lässt sich nämlich von ihr nach medizinischer Logik auch erwarten, dass sie uns eine zuverlässige Verlaufsprognose liefert und über die Herausforderungen sowie Möglichkeiten kausaler Therapie orientiert. Zugunsten dieser Krankheitssuche aber gleich die DSM-/ICD-Syndromdiagnosen aufzugeben und stattdessen auf baldige Erfolge des RDoC-Projekts zu setzen, erscheint doch als vorschnell und gewagt. Es könnte ja auch sein, dass es schon allein deshalb bei den Syndromdiagnosen bleiben muss, weil ein und dieselbe psychische Störung durch verschiedene neurobiologische Krankheitsprozesse hervorgerufen werden und umgekehrt auch ein und dieselbe Pathologie unterschiedliche psychische Störungsphänomene bewirken kann [2].

Das noch durch einen weiteren psychosebezogenen Beitrag und eine Weiterbildungsarbeit von gemeinsamem neurologischem und psychiatrischem Interesse angereicherte Heft bietet Gelegenheit, sich ein Bild von der klassifikatorischen Debatte zu machen. Wir laden Sie, liebe Leserinnen, und Sie, liebe Leser, herzlich dazu ein.

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Prof. Dr. med. J. Klosterkötter