Geburtshilfe Frauenheilkd 2014; 74(8): 717-719
DOI: 10.1055/s-0034-1382871
Geschichte der Gynäkologie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Berühmte Gynäkologen. Rudolf Kaltenbach (1842–1893) und das Kaltenbach-Schema

Matthias David
,
Andreas D. Ebert
Further Information

Publication History

eingereicht n.a.
revidiert n.a.

akzeptiert n.a.

Publication Date:
03 September 2014 (online)

„Die Lebensdauer der Aerzte ist nicht gross und die der gynäkologischen und chirurgischen Kliniker zeichnet sich, wenigstens in unserer Zeit, durch ganz besondere Kürze aus. Die Hauptgefahr für sie liegt in der septischen und anderen Infectionen. Doch trägt ohne Zweifel auch der mächtige Aufschwung jener Disciplinen und der Zwang, theoretisch und praktisch in intensiverem Grade und oft mit Überanstrengung daran mitzuarbeiten, zur Verkürzung des Daseins bei. Auch die Dünste des Chloroforms und Aethers, die stete Benetzung mit den Lösungen der Karbolsäure und des Sublimats und die vielen großen und schweren Operationen, deren schulgemässe, methodische Ausbildung erst mühsam gesucht werden musste, mögen nicht gerade vorteilhaft auf Herz und Nieren gewirkt haben. Der Opfer sind recht viele (…) und die meisten davon starben in Folge von Infectionen und Herzleiden. Zu ihnen gehört auch Kaltenbach, welcher, am 12. Mai 1842 zu Freiburg (…) geboren, im 52. Lebensjahre starb (…)“ [1]. Mit diesen Worten gedachte Alfred Hegar (1830–1914) in der Deutschen Medizinische Wochenschrift 1894 Rudolf Kaltenbachs, mit dem ihn ein besonderes Lehrer-Schüler-Verhältnis verbunden hatte ([Abb. 1] und [2]).

Zoom Image
Abb. 1 Porträt von Rudolf Kaltenbach (1842–1893) (Quelle: [2]).
Zoom Image
Abb. 2 Porträt Alfred Hegars (1830–1914) (Quelle: [3]).

Kaltenbach war 15 Jahre Mitarbeiter Hegars in Freiburg. Nach seinem Medizinstudium in Freiburg, Berlin und Wien promovierte er 1865 in Freiburg. 1867 kehrte er nach einem 2-jährigen „operativen Lehrkurs“ bei Prof. Johann von Dumreicher (1815–1880), seinem Onkel in Wien, 1868 an die Universitätsfrauenklinik nach Freiburg zurück [4], um, wie es August Martin (1847–1933) in seinem Nachruf ausdrückte, „(…) als Assistent von Hegar in jene fruchtbringende Beziehung zu diesem Altmeister zu treten, welche die so glänzende Periode der operativen Gynäkologie in Deutschland inaugurierte…“ [5]. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich die Gynäkologie gerade erst als eigenständiges Fach bzw. Teilgebiet herauszubilden. „Gynäkologische Kliniken im modernen Sinne gab es nicht. Die Frauenkrankheiten wurden, soweit sie sich als funktionelle Störungen darstellten, vom inneren Kliniker, soweit sie operative Hilfe erforderten vom Chirurgen behandelt (…)“ (Kaltenbach, zit. in [4]).

Kaltenbach habilitierte sich 1868, nahm 1870/71 am Deutsch-Französischen Krieg teil und wurde 1873 auf Vorschlag der Freiburger Fakultät zum a. o. Professor ernannt. Hegar übertrug ihm von da an die mit dem Freiburger Lehrstuhl verbundenen Funktionen eines Hebammenlehrers und Kreisoberhebarztes, später auch die Abhaltung des geburtshilflichen Operationskurses und die Vorlesungen. Er assistierte Hegar bei allen großen Operationen. Zwar war Kaltenbach ein ihm unterstellter Mitarbeiter, aber Hegar bezeichnet ihn in seinem Nachruf als Freund. Nur mit ihm und durch seine Unterstützung sei es möglich gewesen, einen alten Plan, nämlich ein Lehrbuch der operativen Gynäkologie zu schreiben, zu verwirklichen [1]. Hegar und Kaltenbach waren die ersten deutschen Gynäkologen, die es wagten, ein solches Operationslehrbuch zu schreiben [6]. Bereits im Vorwort zur 1. Auflage ihres Lehrbuchs stellen Hegar und Kaltenbach ihre Intention dar: „(…) Wir besitzen mehrere sehr vollständige und gute Lehrbücher über Gynäkologie, in welchen auch die mechanische und operative Therapie abgehandelt wird. Doch liegt eine detaillierte Schilderung der chirurgischen Eingriffe, ihrer Indicationen etc. ausserhalb des Planes jener Werke und ein genaueres Studium der gynäkologischen Operationen ist daher nur möglich, wenn man dem in den verschiedensten Monografien und Zeitschriften zerstreuten Material nachgeht. Die Sammlung und systematische Zusammenstellung dieses massenhaften Materials erschien uns als ein unabweisbares Bedürfnis für den Studierenden, wie für den praktischen Arzt. Denn wenn manche Operationen auch in Zukunft noch vorzugsweise dem Specialisten zugewiesen bleiben dürften, so müssen doch viele andere mit der Zeit mehr Allgemeingut der Aerzte werden, damit der grosse Nutzen, welcher dadurch geschaffen wird, nicht ausschließlich nur einem kleinen Teile der Bevölkerung zu Gute kömmt (…)“ [7] ([Abb. 3]).

Zoom Image
Abb. 3 Deckblatt der 2. Auflage des Werkes „Die operative Gynäkologie mit Einschluss der gynäkologischen Untersuchungslehre“ von A. Hegar und R. Kaltenbach [7].

1883 folgte Kaltenbach dem Ruf an die Ludwigs-Universität Gießen, wo er u. a. einen Klinikneubau aushandeln konnte. Hier setzte er auch seine umfangreiche publizistisch-wissenschaftliche Tätigkeit fort und nahm an zahlreichen Kongressen aktiv teil (siehe dazu das ausführliche Publikationsverzeichnis Kaltenbachs im Artikel seines Urenkels Hartmut P. H. Neumann von 1993, [4]). Das preußische Ministerium berief Rudolf Kaltenbach dann auf Vorschlag der Fakultät 1887 nach Halle [1]. Hier wurde er Nachfolger von R.M. von Olshausen (1835–1915), der die Universitätsfrauenklinik in der Artilleriestraße in Berlin übernahm. Zwei Assistenten des Hallenser Klinikums wurden Kaltenbachs Schwiegersöhne. Zu den Freunden der Familie gehörte hier der bekannte Chirurg Richard v. Volkmann (1830–1889), der auch unter dem literarischen Pseudonym Richard Leander bekannt wurde [4]. In Halle hatte Kaltenbach sich auch über die Verbesserung der Lehre Gedanken gemacht. Ein Ergebnis war das später nach ihm benannte, heute noch bekannte und letztlich auch den einfachen Regelkalendern zugrunde liegende sog. Kaltenbach-Schema. In dem 1891 veröffentlichten Artikel „Ueber Hülfsmittel des gynäkologischen Unterrichts“ skizziert er, wie er zu einer handhabbaren Lösung der grafischen Darstellung gekommen war: „Ein einfach mündlicher Bericht haftet nicht im Gedächtnisse und selbst das Anschreiben der Anamnese auf eine Tafel gewährt keine rasche Orientierung. Nachdem ich diese Uebelstaende oft recht störend für mich selbst wie für das Auditorium empfunden hatte, kam ich allmälig dazu, den Verlauf der Blutungen in allen wichtigen Fällen grafisch aufzuzeichnen. (…) Nach manchen unvollkommenen Vorversuchen ließen wir uns Tabellen im Formate von Temperaturcurven drucken (…) Auf die Abscissenlinie wird nun der zeitliche Verlauf der Blutung mit verticalen rothen Strichen derart eingetragen, dass die verschiedene Höhe dieser Ordinaten gleichzeitig die Intensität der Blutung angibt (…)“ [8].

Kaltenbach betont – in einer Zeit, in der jegliche andere diagnostische Hilfsmittel fehlten – die Wichtigkeit einer genauen Erhebung der Blutungsanamnese im zeitlichen Verlauf. Seine „Curven“ sollten die Besprechung gynäkologischer Krankheitsfälle erleichtern und vereinfachen. Diese konnten nicht nur dazu dienen, den zeitlichen Verlauf und die Intensität der Blutungen anzugeben, in die Blutungskurven wurden auch, wie Kaltenbach in seiner Originalarbeit schreibt, „(…) andere wichtige Krankheitserscheinungen (Collaps, Schüttelfrost, Graviditätssymptome, Erbrechen, Schmerzanfälle) oder auch allmälig sich ausbildende Befunde – Entwicklung eines Tumors – (…) auch eitrige, blutig-wässrige oder jauchige Secretionen mit andern Farben, gelb, braun, grün (…)“ eingezeichnet [8] ([Abb. 4] und [5]). Diese synoptische Übersicht über die zeitlichen Beziehungen von Krankheitserscheinungen und Veränderungen im Blutungsmuster waren für diagnostische Schlussfolgerungen gut zu verwerten.

Zoom Image
Abb. 4 Kaltenbachʼsches Blutungsschema: Patientin mit unvollständigem Abort (oben – Tabelle I.) und Patientin mit Myomblutung (unten – Tabelle II.) (Quelle: [8]).
Zoom Image
Abb. 5 Kaltenbachʼsches Blutungsschema: Patientin mit doppelseitigem Fibrosarkom der Ovarien (oben – Tabelle VII.) und Patientin mit Carcinoma colli uteri (unten – Tabelle VIII.) (Quelle: [8]).

Wir möchten uns, auch wenn in Zeiten von Ultraschall und schnell verfügbarer Laborergebnisse die genaue Blutungsanamnese und mit ihr das Kaltenbach-Schema in Vergessenheit zu geraten drohen, Rudolf Kaltenbachs vor fast 125 Jahren formulierten Erwägungen anschließen: „Der Nutzen solcher Curven beschränkt sich übrigens nicht nur auf die klinische Demonstration. Vielmehr wird jeder Arzt mit Vortheil von ihnen Gebrauch machen, um sich in besonders wichtigen und schwierigen Fällen eine genaue und leicht übersichtliche Unterlage für seine diagnostischen Erwägungen zu schaffen (…)“ [8].