physioscience 2014; 10(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0034-1366011
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Überversorgung als Gesundheitsrisiko – Kosteneinsparungen durch vermehrte Physiotherapie

J. Kool
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Publication Date:
03 March 2014 (online)

Bei einer Überversorgung werden mehr Ressourcen als notwendig eingesetzt. Überversorgung verursacht in der Regel zusätzliche Gesundheitsrisiken, denen kein Nutzen gegenübersteht. Die Thematik der Überversorgung findet in der Versorgungsforschung zunehmend Beachtung. Eine Reduktion der Überversorgung hat großes Potenzial für Einsparungen der Kosten für die Gesundheitsversorgung. Es gibt viele Faktoren, welche die Überversorgung fördern und Barrieren für die Reduktion der Überversorgung darstellen. Diese Barrieren zu überwinden, stellt eine große Herausforderung dar. Physiotherapie ist vielfach eine kostengünstige Alternative, die zur Reduktion der Überversorgung beitragen kann.

Nach einer Skiabfahrt vor einem Jahr musste ich wegen Schneemangels 600 Höhenmeter bergabwärts gehen. Am nächsten Tag war mein linkes Knie am medialen Gelenkspalt schmerzhaft und geschwollen. Ich vermutete, dass ich einen degenerierten Meniskus verletzt haben könnte. Nach kurzem Überlegen beschloss ich jedoch, nicht zum Arzt zu gehen, da ich keinen zusätzlichen Nutzen diagnostischer und medizinisch therapeutischer Maßnahmen erwartete. Ich nahm mir vor, ein Jahr abzuwarten und meine sportlichen Aktivitäten im Rahmen der Möglichkeiten zu steigern. Es dauerte über 10 Wochen, bis die Schwellung wieder abgeklungen war. Auch andere Symptome wie Anlauf- und Belastungsschmerzen blieben relativ lange bestehen. Gehen, Skiwandern und Radfahren – wenn auch reduziert – konnte ich immer. Leichtes Rennen hingegen war mir ohne Schmerzen und anschließende Schwellung erst nach 8 Monaten wieder möglich.

Mein persönlicher Informationsstand über Nutzen und Nebenwirkungen war eine wesentliche Voraussetzung für meine Entscheidung, keine medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Gesundheitsfachpersonen sind überdurchschnittlich gut informiert. Dies kann eine geringere Überversorgung in dieser Gruppe bewirken. Auch Emotionen können zur Überversorgung beitragen. Personen mit wenig Information fürchten, ohne Maßnahmen eher eine Chronifizierung oder Verschlimmerung der Schmerzen herbeizuführen. Schmerzen können bei ungenügender Information Angst auslösen, sodass es nicht so leicht ist, nichts zu tun. Hier kann die Physiotherapie einen wichtigen und kostengünstigen Beitrag leisten.

Wie sieht es mit der Evidenz für Diagnostik und Behandlung von Meniskusläsionen aus? Ein Arztbesuch wäre in Anbetracht der Schwellung beim medialen Kniegelenkspalt und der Belastungsschmerzen nicht unüblich gewesen. Das Spektrum der möglichen medizinischen Maßnahmen ist breit und reicht von einem abwartenden Management mit geringen Kosten zu teilweise aufwendigen diagnostischen und (physio-)therapeutischen Interventionen, Arthroskopie und chirurgischen Eingriffen.

Eine kürzlich publizierte Studie zeigt aber, dass eine arthroskopische Teilresektion bei einem Meniskusriss – eine sehr häufig durchgeführte Operation – nicht effektiv ist [2]. Die Patienten wurden erst eingeschlossen, nachdem im Rahmen einer Arthroskopie ein Meniskusriss diagnostiziert und die Indikation zur Resektion gestellt wurde. Dann wurden die Patienten durch Randomisierung (nach dem Zufallsprinzip) in 2 Gruppen eingeteilt. Die Patienten der Experimentalgruppe erhielten eine Meniskusresektion, während bei denen der Vergleichsgruppe keine Operation erfolgte. Das Ergebnis hinsichtlich der Symptomatik nach einem Jahr war in beiden Patientengruppen gleich. In beiden Gruppen war auch ein gleich hoher Anteil der Patienten so zufrieden, dass sie sich wieder für die Behandlung entscheiden würden. Das Ergebnis zeigt eindrücklich (1) die Problematik der Überversorgung: die Meniskusoperation hat keinen Nutzen, und (2) eine hohe Patientenzufriedenheit auch in der nicht am Meniskus operierten Gruppe, die erwarten lässt, dass eine Reduktion der Überversorgung nicht einfach sein dürfte!

Die Überversorgung mit hoher Zufriedenheit kommt in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung – auch in der Physiotherapie – häufig vor. „Action Bias“ oder Aktionismus kann die Überversorgung zum Teil erklären. Action Bias ist das Phänomen, dass wir uns für mehr Aktion entscheiden als rationell betrachtet sinnvoll wäre. Als Gegenpol dieses sogenannten Aktionismus mit allen möglichen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen steht in der Versorgung das „Warten und Beobachten“, im Englischen als „Wait and See Policy‘ bekannt. Dies ist wissenschaftlich betrachtet vielfach die Methode der Wahl. Der Action Bias führt dazu, dass zu viel diagnostiziert und behandelt wird. Die Ergebnisse sind insgesamt schlechter, da den Nebenwirkungen kein Nutzen gegenübersteht.

Aktionismus tritt auch außerhalb der medizinischen Versorgung auf und scheint uns Menschen angeboren zu sein. Er wurde bereits in der Medizin der Antike beschrieben – schon damals erachteten die Mediziner es als wichtig, „dass etwas getan wird“. Auch Patienten erwarten oftmals eine Maßnahme, und für Fachpersonen ist es nicht immer einfach, „nicht zu behandeln“. Die Gabe von Placebo-Medikamenten war einer der ersten Versuche, dem Bedürfnis, „etwas zu tun“ mit minimalen Nebenwirkungen entgegenzukommen.

Die Wahl der optimalen Behandlung für eine möglichst schnelle Wiederherstellung ist unwesentlich, wenn Beschwerden den Alltag kaum einschränken, wie das bei mir mit leichten Kniebeschwerden und vorwiegend sitzender Tätigkeit der Fall war. Hätten mich die Beschwerden bei meiner Berufsausübung behindert, wäre es wohl nicht so leicht gewesen die „Wait-and-See“-Strategie anzuwenden. Bei medizinisch begründeter Arbeitsunfähigkeit wird erwartet, dass sich Fachpersonen und Patienten darum bemühen, die Arbeitsfähigkeit möglichst schnell wiederherzustellen. Fehlende Patienteneinwilligung zu empfohlenen medizinischen Maßnahmen kann in diesem Zusammenhang als ungenügende Kooperation interpretiert werden.

Physiotherapie ist sehr günstig im Vergleich zu den bildgebenden und chirurgischen Maßnahmen, die im Bereich der muskuloskelettalen Beschwerden enorme Kosten verursachen. Die Verschiebung von Leistungen zur Physiotherapie kann zu großen Kosteneinsparungen führen. Physiotherapie ist vielfach eine wirksame, wirtschaftliche und zweckmäßige Alternative für die Überversorgung mit medizinischen Maßnahmen.

In einer internationalen Umfrage bei den WCPT-Mitgliederorganisationen gab über die Hälfte der Länder an, dass der Direktzugang erlaubt ist [1]. Irina Nast bespricht diese wichtige und interessante Publikation in der Rubrik „gelesen und kommentiert“ auf S. 30 f.

 
  • Literatur

  • 1 Bury TJ, Stokes EK. A Global View of Direct Access and Patient Self-Referral to Physical Therapy: Implications for the Profession. Physical Therapy 2013; 93: 449-459
  • 2 Sihvonen R, Paavola M, Malmivaara A et al. Arthroscopic Partial Meniscectomy versus Sham Surgery for a Degenerative Meniscal Tear. N Engl J Med 2013; 369: 2515-2524