Z Gastroenterol 2014; 52(4): 387-388
DOI: 10.1055/s-0033-1362435
Leserbrief
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leserbrief vom 18.03.2014

O. Leiß
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Publication Date:
15 April 2014 (online)

Sehr geehrte Herausgeber,

ein Manuskript zum Thema „Reizdarm-Leitlinie: Was mache ich in der Praxis anders und warum“ zu einem kurzen Leserbrief zusammenzufassen, erfordert differenzierte, begründete und durch Literaturzitate belegte Ausführungen zu Statement-artigen Aussagen zu verdichten und die Hauptaussage auf eine Handvoll Sätze „einzudampfen“ – mit der Gefahr, dass diese Sätze ohne den jetzt zusammengestrichenen Kontext missverstanden werden können.

Vorab zwei Klarstellungen: 1. Ich weiß um die Arbeit, die mit der Erstellung von Leitlinien verbunden ist und ich weiß, dass sie im Detail mitunter einen Kompromiss verschiedener, an der Erstellung der Leitlinie beteiligter Mitstreiter darstellt. 2. Ich gehe mit der Grundintention der Leitlinie, die Diagnostik des Reizdarmsyndroms (RDS) statt – wie bisher und wie in anderen Ländern – auf die Rom-III-Kriterien zu gründen künftig auf eine ausführliche Differentialdiagnostik zu gründen, in 80 % konform.

Aus der Perspektive einer niedergelassenen gastroenterologischen Fachpraxis unterscheidet sich mein methodisches Vorgehen bei der Abklärung von RDS-Patienten jedoch in einigen Punkten von der in der Leitlinie dominierenden Sicht tertiärer Zentren:

  • Wie die NICE-Leitlinie und die Rom-III-Kriterien halte ich die Bristol-Stuhl-Skala für ein hilfreiches Mittel, um schon bei der Anamneseerhebung eine erste grobe Einteilung in die RDS-Subtypen treffen zu können.

  • Für eine Strukturierung des diagnostischen Vorgehens halte ich Algorithmen, die sich an effektiven Entscheidungsbäumen orientieren, für sinnvoll. Knotenpunkte in diagnostischen Algorithmen zum RDS sind sogenannte „rote und gelbe Flaggen“ wie Alarmsymptome, psychische Komorbidität, allergologische Anamnese, extragastrointestinale Begleitsymptomatik u. a .m.

  • Für mich stellt eine bei der Initialdiagnostik veranlasste Bestimmung des Calprotectin-Wertes im Stuhl ein algorithmischer Knotenpunkt (eine neue „rote Flagge“) dar: Das Ausmaß der Erhöhung dieses Wertes bestimmt die Dringlichkeit einer Koloskopie; ein normaler Calprotectin-Wert im Stuhl (und fehlende Entzündungsparameter im Blut (normales CRP, normales Blutbild)) rechtfertigen zunächst ein weiteres diagnostisches Vorgehen ohne Koloskopie. (Eine vorgeschaltete Calprotectin-Bestimmung im Stuhl macht – einer Metaanalyse zufolge – 2/3 der „Absicherungskoloskopien“ überflüssig. Der Stellenwert einer Calprotectin-Bestimmung bei mikroskopischen Colitiden ist noch nicht definitiv geklärt, wahrscheinlich ist hierzu eine Bestimmung des kationischen eosinophilen Proteins sensitiver.)

  • In der Leitlinie sind die zu erwägenden bzw. auszuschließenden Differentialdiagnosen gleichberechtigt nebeneinander aufgelistet. Bei der Stufendiagnostik in der Praxis orientiere ich mich an Prätest-Wahrscheinlichkeiten möglicher Differentialdiagnosen, beginne mit nicht-invasiven Tests und erörtere invasive Verfahren erst nach frustranen oder fraglich-positiven Voruntersuchungen.

  • Bei normalem Calprotectin-Wert im Stuhl dominieren in der primärärztlichen Diagnostik H2-Atemteste zum Ausschluß / Nachweis einer Laktoseintoleranz, einer Fruktosemalabsorption oder einer Sorbitintoleranz – den D, M und P im FODMAP- Konzept (FODMAP = fermentierbare Oligo-, Di-, Monosaccharide und Polyole).

  • In Kenntnis der in der Literatur von RDS-Patienten angegebenen Nahrungsmittelunverträglichkeiten (z. B. Weizen, Milchprodukte, Zitrusfrüchte, Tomaten, Alkohol, Tees und Schokolade) versuche ich, mittels Ernährungsanamnese und orientierender Bestimmung der Diaminooxidase (DAO), des Histamin-abbauenden Enzyms, die – Schätzungen zufolge – 10–25 % der RDS-Patienten zu erfassen, bei denen eine pseudoallergische Reaktion auf biogene Amine (am häufigsten ein Histaminintoleranz-Syndrom) eine Rolle spielen könnte – ein Aspekt, der in der Leitlinie nicht berücksichtigt ist.

  • Stuhluntersuchungen auf Parasiten und Wurmeier halte ich nur bei Patienten mit Auslandsreisen, Haustieren oder Bio-Freaks, die Salat vom Bio-Bauer lieben, für sinnvoll.

  • Kontext des Auftretens der Symptome und Art und Ausmaß nicht-gastroenterologischer Begleitsymptome sowie klinischer Untersuchungsbefund bestimmen den Umfang zusätzlicher laborchemischer und funktionsdiagnostischer Untersuchungen und die Auswahl an (über die gynäkologische Konsiliaruntersuchung bei Frauen hinausgehenden) fachärztlichen Konsultationen.

Dem gegenüber der Leitlinie unterschiedlichen diagnostischen Vorgehen in der primär-ärztlichen Versorgung liegt eine unterschiedliche Sichtweise von Medizin zugrunde. Medizin wird als lebensweltliche Praxis gesehen, die lebensweltliche Probleme lösen und lindern will. Wissenschaft wird – mit Janisch und Hartmann – als ‚Hochstilisierung lebensweltlicher Praxen’ angesehen. In der Beobachterebene der Wissenschaft wird das beobachtete Subjekt zum Objekt, als Subjekt bleibt es außen vor. Eine „Einführung des Subjekts in die Medizin“ (von Weizsäcker, von Uexküll) ist in der Teilnehmerebene der Lebenswelt nicht nötig, da das Subjekt als Subjekt zur Teilnehmerebene dazugehört.

Mögliche Kriterien und Maximen einer lebensweltlichen, handlungsorientierten und Zweck-Mittel-Relationen abwägenden Vorgehensweise, die einem holistischen „approach to …“ zugrunde liegen, sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Eine über die Einstufung von Medizin als angewandt Naturwissenschaft hinausgehende Sicht von Medizin als Handlungswissenschaft erfordert nicht zwingend eine ‚ausziselierte’ Differentialdiagnostik. Ein therapeutisches Handeln ist lebensweltlich schon bei Vorliegen ausreichend guter Gründe möglich und sinnvoll.

Fazit: Unter Berücksichtigung von Kontext und Prätest-Wahrscheinlichkeiten und unter Integration der o. a. neuen „roten Flagge“ Calprotectin im Stuhl sind in der niedergelassenen gastroenterologichen Praxis pragmatische Algorithmen der Reizdarm-Diagnostik denkbar, die eine bessere Betreuung bei geringeren Kosten ermöglichen. Nicht bei jedem Patienten unter 45 Jahren mit Blähungen und breiigen Stühlen ist zwingend eine Koloskopie erforderlich. Das in der Leitlinie unterbelichtete FODMAP-Konzept kann derzeit als first-line Therapie des RDS angesehen werden, in aktuellen Studien sind therapeutische Effekte mit 70 %-iger (und bei strikter Compliance > 80 %-iger) Besserung belegt. Zur Umsetzung des FODMAP-Konzepts sind eine enge Kooperation von Gastroenterologe / Gastroenterologin und Ernährungsberaterin und eine intensive individuelle Schulung des RDS-Patienten erforderlich. Eine medikamentöse Behandlung des Durchfall-dominanten RDS scheint erst nach mehrmonatiger frustraner FODMAP-armer Ernährung gerechtfertigt.

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Tabelle 1

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  • Literatur beim Verfasser