Fortschr Neurol Psychiatr 2013; 81(12): 731-738
DOI: 10.1055/s-0033-1356235
Mitteilungen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft

Nr. 31 (2013)
Subject Editor: Heinz Schott, Bonn
Further Information

Publication History

Publication Date:
04 December 2013 (online)

Tagungsbericht

Medizinische Anthropologie und Theologie

18. Jahrestagung der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft in Verbindung mit der Evangelischen Akademie im Rheinland vom 19. bis 21. Oktober 2012 in Bonn-Bad Godesberg

Noch bis in das späte Mittelalter wusste man, dass die Medizin beides ist, sowohl eine ars agapaticae als auch eine ars iatricae, also eine Kunst liebender Zuwendung und eine Kunst sachgemäßen ärztlichen Handelns. Auf eigentümliche Weise verband sich das Hippokratische mit dem christlichen Ethos. Doch der mit der Neuzeit einsetzende Wandel im methodischen Selbstverständnis der Medizin hin zu einer angewandten Naturwissenschaft ließ jene Doppelbestimmung zunehmend verloren gehen.[1] Eine Folge dieses Verlusts mag man in der sog. „Krise“ der modernen Medizin sehen, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach beschrieben wurde.[2] Mit dem Versuch einer modernen Rehabilitierung jener ursprünglichen Doppelbestimmung gibt die Medizinische Anthropologie Viktor von Weizsäckers eine zwar prominente, aber auch eigenwillige und weitgehend folgenlos gebliebene Antwort auf diese Krise. Folgenreich hingegen wurde jene andere Antwort, wie sie der faszinierende Weg der medizinischen Wissenschaften zeigt. Freilich, die Erfolge dieses Wegs führen – wie es scheint – wiederum in eine Krise. Erneut steht das disziplinäre und epistemologische Selbstverständnis der Medizin zur Debatte.[3]

Der Philosoph Hartwig Wiedebach (Zürich) brachte in seiner Einführung das gleichermaßen Charakteristische wie Irritierende des Weizsäckerschen Versuchs unumwunden zur Sprache. Es zeige sich in dessen Überzeugung, dass es allein die von der modernen Naturwissenschaft ausgeschlossene Idee der Schöpfung sei, „unter deren Herrschaft irgend etwas als Wahres und Wirkliches hervorzubringen ist“.[4] So stehe bereits die Naturphilosophie Weizsäckers, und damit der Anfang seines ganzen Werks, im Zeichen einer kritischen Aneignung des biblischen Schöpfungsberichts.[5] Die Wirklichkeit des Menschen wie auch die der Natur erweise sich letztlich, wie verborgen auch immer, als eine geschöpfliche, von Gott geschaffene Wirklichkeit. Als ein Paradigma für die Geschöpflichkeit des Menschen könne der Schmerz gelten – eigentlich aber jede wirkliche Not –, denn hier komme es zur Entscheidung zwischen dem, was nicht sein soll, aber ist, und dem, was sein soll, aber nicht ist.[6] Insofern verwundere es nicht, dass der ärztliche und pflegerische Umgang mit der Not des kranken Menschen in zahlreichen Situationen, vor allem aber in Grenzsituationen, immer wieder auf Fragen der Theologie und des Glaubens führe.

Doch wie lässt sich diese offenkundige Verbindung von Medizin und Theologie näher begründen? Gibt es gar einen „gemeinsamen Gegenstand“ von Medizin und Theologie? Genau diesen Fragen galt der Eröffnungsvortrag des evangelischen Theologen Johannes Fischer (Zürich) zur spirituellen Dimension der Krankheit. Er erinnerte zunächst an Weizsäckers Rede von den „Urphänomenen einer medizinischen Anthropologie“, also: „der kranke Mensch, der eine Not hat, der Hilfe bedarf und dafür den Arzt ruft“.[7] Im Unterschied zum Selbstverständnis moderner Medizin kennzeichne es die Medizinische Anthropologie, dass diese „auch eine Lehre vom Arzt und eine Lehre von der Not enthält“.[8] Um einen Beitrag zu einer solchen „Lehre von der Not des kranken Menschen“ ging es Johannes Fischer. Hierzu sei es nötig, das Phänomen menschlichen Krankseins neu in den Blick zu nehmen. Denn es gehe nicht nur um einen physischen oder psychischen Zustand, sondern um das Phänomen einer Präsenz, die das Leben des Kranken als Ganzes zu dominieren vermag – sei es auch nur ein Schmerz oder aber eine schwere Erkrankung. Zu den gemeinhin diskutierten Dimensionen der Krankheit, wie es die Subjektivität des Erlebens, die Objektivität der diagnostischen Beschreibung und die Solidarität der sozialen Anerkennung sind, komme das eigentümliche Phänomen der Präsenz hinzu. Sie bestimme die Lebenswirklichkeit des kranken Menschen und mache den Unterschied von Krankheit und Gesundheit deutlich. Denn gegen alle Versuche einer positiven Bestimmung der Gesundheit und deren vielfältige Ideologisierung zeige sich, dass Gesundheit immer nur negativ von der Krankheit her bestimmt werden könne: „Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit, und zwar in dem präzisen Sinn von Nicht-Präsenz“.[9] Wie sich also erst über die Präsenzerfahrung von Krankheit, sei es die eigene oder die der anderen, der Wert des Gesundseins erschließe, zeige sich auch die „spirituelle Dimension“ der Krankheit nirgends so deutlich, wie in deren lebensbestimmendem Präsenzcharakter. Sofern man nun Spiritualität – mit Johannes Fischer – in einem weiten Sinne als „bewussten und reflektierten Umgang mit Wirklichkeitspräsenz“ versteht, kommt die Verbindung von Medizin und Theologie in den Blick. Als „Präsenzphänomen“ wird die Krankheit zu ihrem „gemeinsamen Gegenstand“. Das therapeutische Vermögen „spiritueller Praxis“ bestünde dann darin, für den Kranken einen anderen Präsenzraum zu schaffen, in dem die Präsenz der Krankheit ihre beherrschende Macht verliert. Ob es die biblische Überlieferung der Psalmenworte ist, die diesen anderen Präsenzraum zu eröffnen vermag, oder in Analogie zu Weizsäckers Gegenüberstellung von Not und Hilfe der „Präsenzraum ärztlicher Hilfe“, beides sind Formen spiritueller Kompetenz, in denen sich Medizin und Theologie näher sind, als es die heutige Situation erkennen lässt.[10]

Fast schien es, als ob die Ausführungen des ehemaligen Direktors der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, Friedhelm Lamprecht (Heidelberg), zur Rolle des Glaubens in der Arzt-Patient-Interaktion dem Versuch gälten, am Beispiel psychotherapeutischer Fallgeschichten Formen spiritueller Praxis vorzustellen, in deren Ergebnis es tatsächlich zu „Präsenzräumen ärztlicher Hilfe“ gekommen sei. Als Ausgangspunkt diente jener Brief „Zur Frage der,christlichen‘ Medizin“, den Viktor von Weizsäcker im September 1947 an den Herausgeber der „Tutzinger Ärztebriefe“ Alfred Knorr schrieb.[11] Wie der Medizin auf ihrem historischen Weg zur angewandten Naturwissenschaft die spirituelle Dimension menschlichen Krankseins verlorenging, so ist bei der Entfaltung moderner Theologie das „Arzttum der ersten Christen (...) sozusagen auf der Strecke geblieben“.[12] Weizsäckers polemische Frage, warum „die lange Prozession der Tuberkulösen, Krebskranken, Gelähmten und Leidenden sich in unseren Tagen vor der Klinik vorfahren lässt und nicht vor der Kirche“, mündet in die „praktische Entscheidung: Wer hilft und wer hilft nicht?“[13] Erneut geht es um Not und Hilfe und um die Aufmerksamkeit dafür, um welche Not und um welche Hilfe es sich im konkreten Fall handelt. Auch der Arzt und Therapeut muss sich fragen, ob er die richtige Hilfe für die gegebene Not zu leisten in der Lage ist. So sei es gerade für den Seelsorger unverzichtbar, darum zu wissen, zu welchen Glaubensformen es in Abhängigkeit von bestimmten pathologischen Persönlichkeitsstrukturen kommen kann. Mit eindrucksvollen Krankengeschichten konnte Friedhelm Lamprecht einen z. T. auch verstörenden Eindruck von den gegenseitigen Verborgenheiten und Verwandlungen geben, wie sie sich im Verhältnis des Glaubens zur psychischen Situation einstellen.[14] Es schiene überaus lohnenswert, die von Lamprecht in Deutschland etablierte EMDR-Methode zur Traumatherapie auf ihr Potenzial zur Schaffung jener von Johannes Fischer beschriebenen „anderen Präsenzräume“ hin zu befragen. Wobei sich eine Besonderheit darin zeige, dass es oftmals keinen sprachlichen Zugang zum traumatischen Erlebnis gebe, so dass eine hierfür geeignete „spirituelle Praxis“ von somato-sensorischer Art sein müsse.[15]

Zur größten Herausforderung sowohl für eine spirituell entleerte Medizin als auch für eine ihres Arzttums verlustig gegangene Theologie wird der Umgang mit Sterben und Tod. Dies noch verstärkt durch die therapeutischen Fortschritte der Medizin und damit einhergehende demografische und ökonomische Entwicklungen. Der Politologe und christliche Sozialwissenschaftler Manfred Spieker (Osnabrück) gab in seinem Vortrag zur Sterbehilfe im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Selbsthingabe am Lebensende neben einem profunden Überblick zur neueren Diskussions- und Rechtslage auch einen Eindruck von den Schwierigkeiten der Meinungsbildung in den beiden großen Kirchen. Sein besonderes Augenmerk galt dem modernen Postulat der Selbstbestimmung und dem unzureichend gewürdigten anthropologischen Vorbehalt jeder Aussage zur vermeintlich eigenen Willensbildung in späterer Zeit und unter anderen Umständen.[16] Es sei ein Trugschluss, die eigene Haltung zu Sterben und Tod vorwegnehmen zu können. Hier bestehe die Gefahr, dass Patientenverfügungen gleichsam zur „Euthanasiefalle“ würden.[17] So sei der Streit um Möglichkeiten und Grenzen eines Patientenverfügungsgesetzes vergleichbar mit der Diskussion um die Hirntodbestimmung als Vorbedingung der Organentnahme. Immer gehe es um den Versuch, ein juristisch nicht zugängliches Problem auf juristischem Wege lösen zu wollen: nämlich das Problem des Verhältnisses von Leben und Tod.[18] Diesem Problem werden weder die modernen Reduktionen des Menschenbilds gerecht, wie sie in den Formen der Selbstbestimmung oder des Hirntod-Konstrukts zum Ausdruck kommen, noch die von Manfred Spieker aus biblischer Tradition bekräftigte Haltung einer Selbsthingabe, die das Sterben für den Christen zur Gnade werden lasse, ja gar zum „Lebensabschlussgottesdienst“.[19] Denn auch im Sterben des Christenmenschen kann es zu einer Not kommen, die der Hilfe des Arztes bedarf.

Der von Johannes Fischer zu Beginn der Tagung eingeführte „gemeinsame Gegenstand“ von Medizin und Theologie erlangt nun eine Präzisierung. Zwar zeigt er sich in der Krankheit als einem Präsenzphänomen, doch gründet diese Präsenz letztlich im Verhältnis von Leben und Tod. Denn jede Krankheit bringt etwas von der Anwesenheit des Todes im Leben zum Vorschein. Wenn nun aber, wie es Weizsäcker selbst formuliert, die „Teilhabe des Todes am Leben“ das eigentliche Anliegen seiner Medizinischen Anthropologie bildet,[20] dann freilich mag es naheliegen, nach der „paulinischen Gestalt des Denkens Viktor von Weizsäckers“ zu fragen. Und genau dies versuchte der evangelische Theologe Gregor Etzelmüller (Heidelberg) auf dem Weg einer subtilen Lektüre ausgewählter Texte Weizsäckers. Tod und Sterben werden dann tatsächlich zum gemeinsamen Thema medizinischer und theologischer Anthropologie. Am deutlichsten komme dies in Weizsäckers Verständnis von Krankheit und Therapie zum Ausdruck.[21] Gegen die von der frühen dialektischen Theologie vertretene Trennung von Seelsorge und Medizin beruft er sich in aller Entschiedenheit auf die Einsicht des Apostels Paulus, wonach nicht das Geistliche zuerst komme, sondern „erst das Seelische und hernach das Geistliche“ (1. Kor 15,46). Jeder spirituelle Akt bedürfe der leiblich-seelischen „Bereitstellung“.[22] Die gegenseitige Verborgenheit nicht nur von Soma und Psyche, sondern auch von Fleischlichkeit und Geistigkeit wird zur zentralen Denkfigur der Medizinischen Anthropologie.[23] Wie schon für Paulus, gehörten auch für Weizsäcker das sterbliche Fleisch und die Verwandlung in die Auferstehung des Leibes zusammen (1. Kor 15,36).[24] Die von der Theologie auf den jüngsten Tag verschobene Erlösung durch Verwandlung müsse streng genommen in jeder wirklichen Krise des menschlichen Lebens, also auch in jeder Krankheit, aufgefunden werden können. Es sei dieses etwas andere Verständnis von Krankheit, das Weizsäcker meint, wenn er davon spricht, dass die „Therapie immer eine Euthanasie“ bleibe.[25] Die Medizin habe also „in gleicher Kraft dem Leben und dem Tode zu dienen“.[26] Sowohl die fremd anmutende paulinische Formel vom „Tod als der Sünde Sold“ (Röm 6, 23) als auch Weizsäckers These vom Sinn des Lebens, der nicht in der Erhaltung, sondern im „Opfer des Lebens“ bestehe, stehen nicht nur für die paulinische Gestalt des Weizsäckerschen Denkens, vielmehr kann ihnen, wie die eindringliche Darstellung Gregor Etzelmüllers zeigte, eine im Wortsinne therapeutische Dimension entnommen werden.[27]

Einer ganz anderen Ebene der Verbindung von Medizin und Theologie galten die Ausführungen der Ordensoberin der Johanniter-Schwesternschaft Andrea Trenner (Berlin). Unter dem Motto „Dienende Führung“ ging es um die Möglichkeiten und Bedingungen eines christlichen Managements. In einem sehr persönlich gehaltenen Bericht kamen der eigene Weg in das Leitungsamt, die strukturellen Besonderheiten der Johanniter-Schwesternschaft und die vielfältigen Quellen und Anregungen zur Sprache, von denen her versucht wird, eine „praktische Führungsphilosophie“ unter der Maßgabe des Verzichts auf Macht zu etablieren. Neben der geistlichen Orientierung an den biblischen Berichten zum Dienst der Frauen um Jesus (Lk 8, 3) und den Regeln des heiligen Benedikt (RB 31, 18 f.) war es vor allem das Konzept „Servant Leadership“ von Robert Greenleaf, an dessen zehn Elementen Andrea Trenner ihre eigenen Erfahrungen mit dem Versuch einer dienenden Führung vorstellte.[28] Hierzu zählen neben dem aktiven Zuhören auch Empathie, Intuition, Vertrauen, Mut zu Visionen, gemeinschaftliche Eigenverantwortung und die Kunst, die eigenen Absichten als einen Dienst für andere verstehen zu lernen. Auch wenn in der Diskussion eine gehörige Portion Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten wirkungsvoller Führung ohne Machtausübung deutlich wurde, ist gleichwohl daran zu erinnern, dass dem von Paracelsus her geprägten Therapieverständnis Viktor von Weizsäckers eine strukturell ähnliche Haltung eignet. Es kommt gleichsam zu einer methodischen Wende im Verhältnis zum Anderen: von der Aktivität des Verwirklichens hin zur Passivität des Ermöglichens.[29]

Der Philosophiehistoriker Helmut Holzhey (Zürich) unternahm den Versuch, diese in der Therapie enthaltene Wende für ein näheres Verständnis menschlichen Denkens überhaupt in Anspruch zu nehmen. Dies in dem doppelten Sinn, dass zum einen im Denken keineswegs nur ein aktiver Vorgang gesehen werden könne, sondern eine Passivität und Rezeptivität, kurzum ein Leiden. Zum anderen aber stelle sich dann die Frage nach einer Therapie dieses offenbar schicksalhaft an sich selbst leidenden Denkens. Der Zusammenhang von Denken und Leiden prägt den Gang der abendländischen Kultur. Er beginnt mit dem berühmten Wort des Aischylos vom „Lernen durch Leiden“.[30] Doch dort gehe es um ein Denken, das dem Leiden gegenübersteht, noch nicht um die tatsächliche „Immanenz des Leidens im Denken“ selbst. Holzhey versuchte diese Immanenz am Phänomen der Erfahrung zu verdeutlichen. Als ein Geschehen sei das „Machen von Erfahrungen“ immer auch mit einem Widerfahrnis verbunden. So erfolgen alle Erfahrungen, ob es die wissenschaftlichen, die religiösen oder die hermeneutischen sind, stets im Modus „pathischer Erfahrung“, sind also „strukturell durch produktive Negativität gekennzeichnet“.[31] Zum eigentlich philosophischen Problem wird die Immanenz des Leidens im Denken erst bei Immanuel Kant. Hier werden die Widersprüche offenkundig, in die jeder Versuch führt, das der Vernunft eingeschriebene metaphysische Bedürfnis vernünftig befriedigen zu wollen. Denn es gehört zum Vermögen der Vernunft, Fragen zu stellen, die eben jenes Vermögen übersteigen.[32] Insofern könne bei Kant von einer „pathischen Denkerfahrung“ gesprochen werden, an der dann letztlich auch das vernünftige Unternehmen einer „Kritik der Vernunft“ scheitern muss.[33] Es bleibt also beim „Schicksal“ eines an sich selbst leidenden Denkens. Die Suche nach einer „Therapie“ angesichts dieser „Not“ des denkenden Menschen führt Holzhey über das Scheitern sowohl der akademisch-philosophischen Versuche (z. B. bei Hegel oder Carnap) als auch der Angebote seitens Weltweisheit und Lebenskunst auf das Spätwerk des jüdischen Religionsphilosophen Hermann Cohen (1842 – 1918). Wiederum in Anlehnung an Paulus, wonach Gott die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt, gehe es um die christliche Einsicht in eine andere Torheit, nämlich die „Torheit des Wortes vom Kreuz“ (1. Kor 1, 20). In dieser Perspektive treibe das dem Denken immanente Leiden die „Selbsterkenntnis des Vernunftwesens über sein Selbst hinaus“. Auf dem Weg des vom Kreuz herkommenden Mit-Leidens werde nicht nur der andere Mensch zum Mitmenschen, sondern auch ich selbst werde „meinerseits leidender Mitmensch“. Der „gemeinsame Gegenstand“ von Medizin und Theologie erlangt nunmehr eine das „Verhältnis zu ihm“ betreffende, methodische Präzisierung: nämlich in Gestalt einer eigentümlichen „Veranderung des Selbst“, wie sie auch das Arzt-Patient-Verhältnis bei Weizsäcker kennzeichnet.[34]

Der abschließende Vortrag des studierten Physikers und evangelischen Theologen Christian Link (Bochum) galt in streng systematischer Absicht der Frage nach dem epistemologischen Status des „gemeinsamen Gegenstandes“ von Medizin und Theologie. Insofern damit „Weizsäckers Frage nach der Welt als Schöpfung“ gemeint war, schloss sich der gedankliche Bogen dieser Tagung zu Hartwig Wiedebachs einführender These, Viktor von Weizsäckers Denken gelte letztlich dem Versuch, Mensch und Natur in ihrer Geschöpflichkeit zu verstehen. Christian Link verwies zunächst auf Weizsäckers lebenslangen und durchaus kritischen Umgang mit der christlichen Überlieferung und erwähnte, ebenso wie manche seiner Vorredner, die eindrucksvolle Schilderung der neuzeitlichen Trennung von Klinik und Kirche.[35] Denn es habe mit dem ideengeschichtlichen Hergang dieser Trennung zu tun, dass Weizsäcker für seinen Entwurf einer Medizinischen Anthropologie auf Anleihen seitens der zeitgenössischen Theologie oder Philosophie verzichtete.[36] Statt nach der Weltlichkeit oder Unchristlichkeit der modernen Medizin zu fragen, habe ihn deren „Entfremdung von der Natur“ interessiert.[37] Denn wie sich die Natur selbst in der empirisch beschreibbaren Natur nicht zeige, so sei auch der Mensch immer mehr als seine empirisch beschriebene Natur. Mit diesem „Mehr“ verbinde sich nicht nur der „lebensweltliche Haftpunkt“, sondern vor allem Weizsäckers dezidierte Absage an den methodischen Atheismus neuzeitlicher Wissenschaft. Doch worin genau besteht dieses „Mehr“? Denn es geht um nicht weniger als den epistemologischen und ontologischen Status des „gemeinsamen Gegenstandes“ von Medizin und Theologie. Christian Link gab hierzu eine knappe, aber in ihrer Konsequenz weitreichende Rekonstruktion von Weizsäckers Arbeit am Naturbegriff. Diese beginnt in seiner großen naturphilosophischen Vorlesung von 1919/20, setzt sich in seinen experimentellen Studien zur „Wahrnehmung der Sinne“ fort und mündet schließlich in die Lehre vom Gestaltkreis.[38] Die epistemologische Pointe liege in der Wende vom Paradigma der Physik zu dem der Biologie, also von der Beobachtung zum Erlebnis. Es geht um Begriff und Phänomen des Lebens, um die lebendige Natur – d. h. um die „Anerkennung des Subjekts im Objekt“.[39] Die „methodische Entscheidung“ weg von der Annahme eines vermeintlich „zugrunde liegenden Vorgangs“ hin zur Auffassung, dass „der Mensch zusammen mit der Natur das, was erscheint, erscheinen lässt“, erweist sich für Christian Link „als der Schlüssel, der die Tür zu der von Weizsäcker entwickelten Medizinischen Anthropologie öffnet“.[40] Was nun zum Vorschein komme, sei der dezidiert hermeneutische Charakter dieser Anthropologie. Als ein vorzügliches Beispiel hierfür könne der Schmerz gelten. Er führe gleichsam via negationis zur Einsicht in die „Lebensordnung der Kreatur“ und vermittle auf diese Weise einen lebendigen Eindruck vom „Schöpfungscharakter der Wirklichkeit“.[41]

Wie schon bei den anderen Jahrestagungen, fanden wiederum am Freitagnachmittag in Parallelsitzungen drei Symposien statt. Und auch in diesem Jahr gelang es nur unzureichend, diese Sitzungen als Räume des Gesprächs zu nutzen. Zu umfangreich und zu grundsätzlich waren viele der Beiträge, als dass noch Kraft und Zeit für ein kreatives Gespräch geblieben wäre. Auch kommt es vor, dass die leitenden Moderatoren dieser Symposien ihre Aufgabe missverstehen und sich selbst als Referenten präsentieren. Im ersten Symposium ging es unter Leitung des Direktors der gastgebenden Akademie, des Theologen Frank Vogelsang (Bonn), um das Verhältnis von „Heil und Heilung“ – und damit um eine in unserer modernen und an Begehrlichkeiten reichen Gesellschaft zentrale Frage nach dem, was Gesundheit ist und wann Krankheit beginnt bzw. wie es sich mit den Erwartungen an die Gesundheit nach einer Krankheit verhält? Hierzu gab es Beiträge des systematischen Theologen Hans-Martin Rieger (Jena/Ertingen) und des Internisten Fritz von Weizsäcker (Berlin).[42] Das zweite, von dem Physiker und Philosophen Rainer-M. E. Jacobi (Bonn) geleitete Symposium galt dem Versuch, von dem seit jüngerer Zeit intensiv diskutierte Phänomen der Gabe her einen Zugang zum Rahmenthema der Tagung, also zum Verhältnis von Medizinischer Anthropologie und Kreatürlichkeit, zu finden. Erneut stand die Frage nach dem „gemeinsamen Gegenstand“ von Medizin und Theologie zur Diskussion. Ein klassischer Topos hierfür ist das von Weizsäcker an zentralen Stellen seines Werks zitierte „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (Schleiermacher), dem sich der praktische Theologe Hans Martin Dober (Tübingen/Tuttlingen) zuwandte.[43] Einen Überblick zur Debatte und zu den anthropologischen Implikationen des Phänomens der Gabe präsentierte die katholische Theologin Veronika Hoffmann (Erfurt).[44] Mit dem dritten Symposium schließlich sollte die Tradition aufgegriffen werden, am Beispiel konkreter Krankengeschichten aus der ärztlichen Praxis einen etwas anderen Zugang zur Rahmenthematik zu versuchen. Unter der Leitung des emeritierten Ordinarius für Psychosomatik Ernst R. Petzold (Kusterdingen) stellte der evangelische Theologe und Psychotherapeut Peter Achilles (Saarbrücken) nebst einer Skizze zur „Konvergenz“ von Medizin und Theologie bei Weizsäcker einige seiner hierfür einschlägigen klinischen Fälle vor.[45] Der Psychosomatiker Volker Perlitz und der katholische Theologe Anton van Hooff (beide Aachen) gaben anschließend einen experimentell und erkenntniskritisch orientierten Einblick in die physiologischen Korrespondenzen religiöser Erfahrungen.[46]

Dieser Bericht geht auf Vorarbeiten von Benjamin Dober und Philippe Pape (beide Freiburg/Br.) zurück. Er erscheint hier in redaktionell bearbeiteter Form und ergänzt um die Anmerkungen.


#