physioscience 2013; 9(4): 133-134
DOI: 10.1055/s-0033-1356016
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Publizieren von Physiotherapiestudien: Sagen wir, was wir tun und tun wir, was wir sagen?

K. Niedermann
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Publication Date:
26 November 2013 (online)

Wenn ich mit klinisch tätigen Kollegen über die Umsetzung von Erkenntnissen aus Physiotherapiestudien diskutiere, sind die meistgehörten Einwände: „Ich weiß nicht, ob das auf meine Patienten passt“ und „Die Publikation beschreibt nicht, was sie in der Therapie gemacht haben.“

Diese beiden Einwände berühren zentrale Punkte für den Nutzen klinischer Studien. Wie Kerstin Lüdtke im Editorial der letzten physioscience dargelegte [6], ist neben der Kenntnis der methodischen Qualität, die es erlaubt, die beschriebenen Effekte adäquat zu beurteilen, die externe Validität (d. h. Verallgemeinerbarkeit und Repräsentativität der Studienergebnisse) entscheidend, um den Nutzen der Studie und das Potenzial für die Umsetzung der Ergebnisse im klinischen Alltag angemessen einzuschätzen.

Tatsächlich mangelt es aber oft an der genauen Beschreibung der Studienteilnehmer (Ein-/Ausschlusskriterien), der Studienorte, der behandelnden Physiotherapeuten und des Versorgungssystems, in dem die Studie stattfand. Noch häufiger mangelt es an der inhaltlichen Beschreibung der Intervention. Auch fragen Beurteilungsskalen wie PEDro oder die Cochrane Liste bei den Interventionen nach möglichen Verzerrungen, aber nicht nach adäquater Dosierung und Nachvollziehbarkeit.

Ist die fehlende Beschreibung der Intervention kein Problem, außer für ein paar Physiotherapeuten, die es genauer wissen wollen? Doch –, und das Problem scheint mir so gewichtig dass sowohl Autoren von Studien als auch Gutachter es ernst nehmen sollten. Lassen Sie mich dies an einem Beispiel aus meinem Forschungsfeld illustrieren:

Bei der entzündlich rheumatischen Erkrankung der axialen Spondylarthropathie (M. Bechterew, ankylosierende Spondylitis) empfehlen die internationalen Guidelines [3] für das Behandlungsmanagement medikamentöse Therapie in Kombination mit Physiotherapie mit dem Schwerpunkt auf Beweglichkeitsübungen. In mittlerweile 3 Cochrane Reviews zu Physiotherapie bei M. Bechterew wurde die Wirksamkeit solcher Übungen auf die Wirbelsäulenbeweglichkeit belegt bzw. bestätigt [4].

Nun rückte beim M. Bechterew in den letzten Jahren zunehmend das bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen stark erhöhte Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in den Fokus der Forschung. Körperliche Inaktivität und mangelnde Leistungsfähigkeit stellen dabei zugleich Symptom und Risikofaktor dar. Deshalb ist es wichtig, dass die Trainingsangebote auch andere Konditionsfaktoren als die der Beweglichkeit berücksichtigen, insbesondere kardiovaskuläre Ausdauer. Tatsächlich gaben die meisten der Studien zur Wirksamkeit der Bechterew-Physiotherapie neben Beweglichkeit als weitere Ziele und Endpunkte auch Kraft und/oder Ausdauer an.

Eine Sekundäranalyse der in das 3. Cochrane Review eingeschlossenen Studien (einschließlich 2 später publizierten RCT; [5]) untersuchte, ob diese Trainingsinterventionen die Empfehlungen des American College of Sports Medicine (ACSM) bezüglich effektiver Trainingsinterventionen umsetzten [1]. Eine effektive Intervention muss bezüglich Häufigkeit, Intensität und Dauer (sowohl der Trainingseinheit als auch der Interventionszeit) so dosiert sein, dass sie eine physiologische Antwort und damit einen Trainingseffekt erreicht, wie z. B. bessere Beweglichkeit, mehr Kraft oder verbesserte Herz-Kreislauf-Fitness. Der Effekt von – korrekt dosierten – Interventionen hängt zudem auch direkt von einer ausreichenden Adhärenz ab, also der konsequenten Durchführung des Trainingsprogramms seitens der Patienten.

Die Sekundäranalyse förderte Interessantes zutage: Beweglichkeit war in 11 der 12 untersuchten Studien als Endpunkt definiert. Die Mehrheit erfüllte die Kriterien bezüglich Häufigkeit und Dauer der Intervention, aber die Beschreibung der Übungen fehlte in allen Studien, und die Dosierung (Sets und Wiederholungen) gaben nur 2 Studien an. In 10 von 12 Studien wurde Beweglichkeit mit adäquaten Instrumenten und in allen kleine positive Effekte gemessen. Nur 3 der 12 Studien dokumentierten die Patientenadhärenz.

Von den 12 Studien hatten 6 auch kardiovaskuläre Ausdauer als Endpunkt; 1 Studie beschrieb die Intervention nicht, und von den übrigen erreichte nur 1 Studie die nötige Dosierung in Bezug auf Intensität, Dauer pro Trainingseinheit, Häufigkeit und Dauer der Trainingsperiode. Nur diese Studie zeigte eine Verbesserung der kardiovaskulären Fitness mittels einer submaximalen Fahrradergometrie. Die Adhärenz wurde in der korrekt dosierten Studie als „alle Patienten nahmen regelmäßig an den Trainings teil“beschrieben, was eine zu wenig klare Angabe ist. Eine weitere Studie machte das besser und evaluierte die Adhärenz durch Trainingstagebücher und Teilnahmeprotokolle der Physiotherapeuten.

Von 12 Studien hatten 5 auch muskuläre Kraft als Endpunkt, aber keine einzige erreichte die nötige Dosierung, evaluierte die Muskelkraft oder machte Angaben zur Adhärenz an das Training.

So weit, so schlecht! Immerhin hatten wir – d. h. die Physiotherapie – „Glück“: Für Beweglichkeitsübungen besteht Silver-level-Evidenz für ihre Wirksamkeit und sie werden daher bei M. Bechterew als Physiotherapieintervention empfohlen.

Dramatisch ist die Situation hingegen in Bezug auf Kraft und Ausdauer. Die oberflächliche Schlussfolgerung könnte nun sein: „Es gibt Evidenz für die Nichtwirksamkeit von […]“. Dies ist keine erstrebenswerte Perspektive, da nur mit einer detaillierten Beschreibung der Intervention unterschieden werden kann, ob diese per se nicht wirksam war oder ob es an der Dosierung lag.

Das Potenzial von körperlicher Aktivität und Training wird immer mehr anerkannt. Dabei gilt auch eine Dosis-Wirkungs-Beziehung – wie für Medikamente! Inzwischen liegt auch genügend Evidenz für die Notwendigkeit von genügender Trainingsintensität für Effekte auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit vor. Körperliche Aktivität und Training haben sich in vielen Fachgebieten – nicht nur in der Kardiologie oder Diabetologie, sondern z. B. auch in der Rheumatologie oder der Onkologie – zu einer Intervention mit viel anerkanntem Potenzial gemausert.

Für die Physiotherapie stellen körperliche Aktivität und Training ein zentrales Feld dar. Das heißt aber auch, dass diese Interventionen – ebenso wie eine medikamentöse Therapie – korrekt dosiert, begleitet und evaluiert werden müssen. Natürlich sind im klinischen Alltag ein schrittweises Heranführen an die Belastung und Adaptionen nötig, je nach Einschränkungen, Schweregrad der Erkrankung und Präferenzen der Betroffenen. Das Ziel sollte aber im Auge behalten werden!

Der Gelesen-und-kommentiert-Artikel von Marina Bruderer in diesem Heft (S. 169) stellt unter dem Stichwort „Therapeutische Validität“ eine Publikation vor, die für das diskutierte Problem einen Lösungsansatz vorschlägt. Auch das erweiterte CONSORT Statement zur adäquaten Beschreibung von nicht pharmakologischen Studien fordert eine detaillierte Beschreibung der Interventionen und Dosierungen. Nur mit diesen Informationen können wirksame Interventionen in der klinischen Praxis umgesetzt werden und damit von Nutzen für die Patienten sein.

 
  • Literatur

  • 1 American College of Sports Medicine Position Stand (ACSM). The recommended quantity and quality of exercise for developing and maintaining cardiorespiratory and muscular fitness, and flexibility in healthy adults. Medicine and Science in Sports and Exercise 1998; 30: 975-991
  • 2 Boutron I, Moher D, Altman DG et al. Extending the CONSORT statement to randomized trials of nonpharmacologic treatment: explanation and elaboration. Ann Intern Med 2008; 148: 295-309
  • 3 Braun J, van den Berg R, Baraliakos X et al. 2010 Update of the ASAS/EULAR recommendations for the management of ankylosing spondylitis. Ann Rheum Dis 2011; 70: 896-904
  • 4 Dagfinrud H, Kvien TK, Hagen KB. Physiotherapy interventions for ankylosing spondylitis. Cochrane Database Syst Rev 2008; (01) CD002822
  • 5 Dagfinrud H, Halvorsen S, Vollestad NK et al. Exercise programs in trials for patients with ankylosing spondylitis: do they really have the potential for effectiveness?. Arthritis Care & Research 2011; 63: 597-603
  • 6 Lüdtke K. Editorial: Systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen – Segen oder Fluch?. physioscience 2013; 9: 89-90