intensiv 2013; 21(04): 170
DOI: 10.1055/s-0033-1349231
Kolumne
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fast unglaublich, aber wahr!

Heidi Günther
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Publication Date:
08 July 2013 (online)

„Es kommt mir obszön vor, wenn Menschen jederzeit erreichbar sind. Es ist nicht richtig.“ (Jean-Luc Godard, 1930)

Wenn mich irgendjemand nach meiner Handynummer fragt und ich dann sage, dass ich kein Handy besitze, reichen die Reaktionen von Ungläubigkeit bis zu blankem Entsetzen. Würde ich mitteilen, ich hätte nur noch vier Wochen zu leben, wäre es nicht anders. Aber ich habe wirklich kein Handy! Mein Sohn fragt mit penetranter Regelmäßigkeit nach, ob ich mir ein Handy wünsche. Nein!

Meine Aversion gegen Handys kann ich schwer erklären. Ich kann mich aber noch gut erinnern, als mein damals 16-jähriger Sohn unbedingt eins haben musste – weil ja alle eins hatten. Bis dahin, so glaube ich zumindest, war ich eine großzügige Mutter. Mein Sohn konnte alle Moden mitmachen, Frisuren eingeschlossen. Er hatte Inlineskates, ein Skatebord und eine Playstation. In seinem Zimmer konnte er machen, was er wollte – nur um mich selbst zu schützen, habe ich ab und zu mal aufgeräumt. Irgendwann fing er an zu rauchen. Auch da habe ich nur mal kurz den warnenden Finger erhoben. Aber was sollte ich sagen – ich rauche ja selbst.

Aber als sein Handy und die damit entstehenden Kosten in unser Leben kamen, war meine Schmerzgrenze erreicht und mein Sohn musste sich einen Schülerjob suchen, um für die auflaufenden Rechnungen selbst aufzukommen. Ich habe nicht eingesehen, dass ich bezahle, damit er einem Freund, der vor unserer Haustür steht, per Handy mitteilt, dass er jetzt runterkommt – was wirklich genau so passiert ist.

Natürlich ernte ich verzweifelte, fast mitleidige Blicke, wenn ich das neueste Modell nicht zu würdigen weiß. Das Allerneueste hat sogar ein Programm, das simulieren kann, wie ich in 30 Jahren aussehe. Wer will denn so etwas wissen?

Mein Sohn weist mich regelmäßig auf die Gefahren hin, wenn ich eine Autopanne hätte und kein Handy zur Hand ist, um Hilfe zu holen. Ich glaube fast, er schätzt meine Chancen, dass jemand anhält, wenn ich hilflos neben meinem Auto stehe, als sehr, sehr gering ein.

Sehr nervig finde ich, dass Patienten sich ihrem Handy mehr widmen als den pflegerischen Maßnahmen, um ihre Genesung zu beschleunigen. Ich verstehe ja, dass sie bei den „Apothekenpreisen“ der Telefonanlage am Bett auf ihre Smartphones, Senioren- oder Outdoorhandys mit Touchscreen, QWERTZ-Tastatur, MP3-Player, Videoplayer, UMTS und WLAN, GPS, Sprachsteuerung, Geotagging oder Bluetooth zurückgreifen. Aber ich darf nicht erwarten, dass ein angefangenes Gespräch oder eine wichtige SMS unter- oder abgebrochen wird, nur weil ich gerade mal komme und vielleicht einen Verbandswechsel machen möchte. Und weil das Handy dann gerade zur Hand ist, werden auch gleich die Wunde und am liebsten auch noch ich als ausführende Schwester fotografiert. Und das Ganze wird dann stante pede im nächsten Telefonat berichtet und die Fotos werden in die Welt geschickt. Wenn ich das nicht möchte, verstehe ich keinen Spaß oder bin ein Spielverderber.

Und dann sind da ja noch die Klingeltöne. Ein normales Klingeln gibt es offensichtlich kaum. Es wird gelacht, gerülpst, geschrien, gegackert, mit dummen Sprüchen wird eine SMS angekündigt oder der individuelle Musikgeschmack bemüht.

Da lob ich mir mein Festnetztelefon, das immerhin schon schnurlos und sogar mit einem Anrufbeantworter ausgestattet ist. Ich muss nicht immer erreichbar sein und rufe auch gern zurück, wenn ich mal nicht zu Hause war. Und außerdem bin ich ja gefühlt immer hier, auf unserer Station – da haben wir sogar mehrere Telefone.

Also, rufen Sie mich an!

Ihre

Heidi Günther