Pädiatrie up2date 2012; 07(03): 215-216
DOI: 10.1055/s-0032-1309450
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Quartäre Prävention

Thomas Baumann
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Publication Date:
28 August 2012 (online)

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Das Prinzip „primum non nocere“ (lat.: zuerst einmal nicht schaden) ist ein Grundpfeiler der Medizin. Vor allem im Namen der Prävention gibt es mittlerweile eine explo„sionsartige Vermehrung neuer Krankheitsbegriffe und Gesundheitsmaßnahmen. Immer mehr „Krankheiten“ und Entwicklungsstörungen müssen vom Kinderarzt frühzeitig erfasst und ggf. behandelt werden. Neue Erfassungsmethoden und Geräte werden eingeführt, um diesem Ziel nachzukommen. In einem Bereich ausgeprägter Unsicherheit und Verängstigung bei niedriger Prävalenz der „Störungen“ ist die Entscheidung, auf initiales, aber auch auf weiteres Handeln zu verzichten, oft eine schwierige Aufgabe.

Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention sind wohlbekannte ärztliche Aufgaben. Bei der Primärprävention sind weder krank sein noch Krankheit vorhanden. Genau genommen ist der Patient gar kein Patient, er ist und fühlt sich gesund. Präventive Maßnahmen sind zum Beispiel, über einen gesunden Lebensstil zu sprechen oder Impfungen durchzuführen. Bei der Sekundärprävention geht es darum, beim Patienten ihm noch unbekannte Krankheiten zu entdecken. Auch dieser Patient fühlt sich wohl. Sekundäre Prävention versucht durch Vorsorgeuntersuchungen Krankheiten in einem frühen Stadium zu entdecken. Die Tertiäre Prävention bemüht sich darum, die Komplikationen einer schon vorhandenen Gesundheitsstörung gar nicht erst entstehen zu lassen und somit Folgeschäden oder Rückfälle zu verhindern.

Die quartäre Prävention dient der Verhinderung unnötiger Medizin oder Übermedikalisierung. 1986 vom Hausarzt Marc Jamoulle erstmals beschrieben, wurde das Konzept 1999 durch das Internationale Klassifikationskomitee der Wonca anerkannt und 2003 im Wonca Dictionary of General/Family Practice veröffentlicht. Dabei geht es um das Problem des Sich-krank-fühlens, ohne dass eine konkrete Krankheit vorliegt. Während der Patient sein Kranksein spürt und nach einer Bezeichnung dafür sucht, würden Ärzte einen Großteil dieser Beschwerden als medizinisch nicht erklärbare Symptome bezeichnen. Für diese Art von Leiden sind in der Medizingeschichte viele Begriffe verwendet worden. Einer davon ist psychosomatische Erkrankung. Die Krankheitsursache ist dabei auf der psychischen Seite, die Folgen werden körperlich empfunden. Häufig werden für solche Krankheiten somatische Krankheits„begriffe gesucht und gefunden, welche seitens der Patienten, die dadurch der in unserer Gesellschaft als Makel angesehenen Diagnose einer psychische Erkrankung entgehen, hoch willkommen sind. Allen diesen Leiden ist gemeinsam, dass sie Tür und Tor für weitere endlose diagnostische Maßnahmen öffnen. Da die meisten normale, viele grenzwertige oder falsch positive Ergebnisse haben werden, sind Folgemaßnahmen und Verschreibungen von unbewiesenen Therapien mit unbekannten Nebenwirkungen voraussehbar. Zudem gibt es zwischen Sich-gesund- und Sich-krank-fühlen ein Kontinuum, während man eine Krankheit nur haben oder nicht haben kann. Man nennt diese Patienten, bzw. ihre Eltern oder Umgebung auch die „besorgten Gesunden“ (worried well). Kompliziert wird die Angelegenheit, da der Patient in der pädiatrischen Praxis in der Regel von den Eltern vertreten wird. Sie oder das Umfeld (Kindergärtnerin, Lehrer) vermuten, der „Patient“ habe ein verstecktes Leiden. Der Kinderarzt ist nun aufgefordert, dieses frühzeitig zu entdecken, damit es einer sofortigen therapeutischen Maßnahme zugeführt werden kann. Dies ist leider auch eine Folge der Anstrengungen von Medien, pharmazeutischer Industrie, Politik und der (para-)medizinischen Berufe, nicht immer aus besten Absichten sondern aus ökonomischem Nutzen, Zweifel und Ängste zu erzeugen. Es hat aber auch damit zu tun, dass die Vorstellung was „normal“ ist, in den letzten Jahren immer enger geworden ist. Somit werden zunehmend mehr Kinder „abnormal“.

Dass das Kind dabei das Gefühl hat krank zu sein, trifft in der Regel nicht zu und passt nicht zum (Vor-) Urteil des Arztes, dass beim Patienten tatsächlich eine Störung vorliegt. Eine solche muss nur noch gefunden werden…

Auch werden Kinder mehr und mehr mit Krankheitsbegriffen belegt (labeling). So sind die meisten sog. „chronischen Erkrankungen“, wie ADS, ADHD, Legasthenie, Sprachentwicklungsstörung, Bluthochdruck, Diabetes, Osteoporose und so weiter, Krankheiten bei denen sich das Kind zumeist nicht krank fühlt. Charles Rosenberg formuliert: „Die zeitgenössische Medizin und die Bürokratie haben Krankheitsentitäten konstruiert, die reale soziale Auswirkungen haben. Diese Krankheitsentitäten entstehen durch Labortests, Krankheit definierende Grenzwerte, statistisch abgeleitete Risikofaktoren und andere Artefakte des scheinbar wertfreien bio-medizinischen Unternehmens.“

Angesichts dieser Unsicherheiten reagieren viele Patienten, gefolgt von zahlreichen Kinderärztinnen und Kinderärzten, mit einem romantischen Rückzug hin zur sog. alternativen oder komplementären Medizin. Wir glauben aber, dass es keine Alternative zu einer guten Medizin gibt, die sich einerseits so weit wie möglich auf Forschungsergebnisse stützt und anderseits ein respektvolles Verständnis für die Ängste und Wünsche unserer Eltern (und die Umgebung) aufbringt. Die Evidenz-basierte Medizin (EbM) und damit die Kenntnis von Nutzen und Schaden aus klinischen Studien, hilft, auf vieles an Diagnostik und Therapie in Übereinstimmung mit unseren Patienten zu verzichten. Es geht aber auch um VOMIT, ein Akronym für „Victim Of Modern Imaging Technology“ (Opfer moderner bildgebender Diagnostik). So wurden z. B. die Schultern von 31 vollkommen gesunden professionelle Baseball-Pitchern, nicht verletzt und ohne Schmerzen, mit einem MRI untersucht: Das MRI zeigte in 90 % der Fälle abnorme Knorpel und in 87 % defekte Rotatorenmanschetten. Dr. James Andrews urteilt: „Wenn du „einen Vorwand suchst, um eine Schulter zu operieren, dann mache ein MRI!“ Es ist oft deutlich einfacher, irgend„eine nutzlose Diagnostik „aus Sicherheitsgründen“ durchzuführen, als darauf zu verzichten.

Da der menschliche Geist leider eher zum Handeln als zum Nichthandeln bzw. zu einem abwartenden Verhalten neigt, kann dies bisweilen bizarre Formen annehmen. So haben beispielsweise Frauen in den USA in 69 % der Fälle weiterhin Abstrichuntersuchungen vom Gebärmutterhals bekommen, obwohl ihnen ihre Gebärmutter schon entfernt wurde.

Zur Umsetzung der quartären Prävention in unseren Praxen könnten wir beispielsweise damit beginnen, die Vorsorgeuntersuchungen auf essentielle Bestandteile zu reduzieren, weniger nutzlose Labortests durchzuführen, weniger Röntgenuntersuchungen zu veranlassen, VOMITs zu umgehen oder weniger Antibiotika in Fällen mit zweifelhafter Wirkung zu verschreiben. Es macht keinen Sinn, viele Patienten „aus Sicherheitsgründen“ oder aus Furcht vor auf Kunstfehler klagende Patienten mit potenziell schädlichen Maßnahmen einzudecken. Dies gilt auch für Maßnahmen die eingeleitet werden, weil man glaubt, der Konkurrent tue es sonst ja sowieso!

Quartäre Prävention ist die Prävention unnötiger medizinischer Interventionen und als solche ein Grundpfeiler der Medizin. Das beste Mittel zur Umsetzung ist unseren Patienten besser zuzuhören und die verborgene Agenda (hidden agenda) zu erfassen. Man versucht das medizinisch Mögliche dem individuell, aber auch gesellschaftlich Benötigten und Gewünschten anzupassen. Wir benötigen dazu eine starke und tragfähige Beziehung zu unseren Patienten und ihr Vertrauen in unsere Aufrichtigkeit. Aber auch ein spezifisches Wissen, wie dies die Pädiatrie up2date seit nunmehr fast 7 Jahren zu vermitteln trachtet. Das andere wichtige Mittel ist die bereits erwähnte Evidenz-basierte Medizin: Die Kenntnis realistischer prädiktiver Werte diagnostischer Tests und zu erwartender Effektgrößen von Nutzen und Schaden von Therapie- und Vorsorgemaßnahmen. Die quartäre Prävention ist damit eine ureigene Aufgabe von guten Kinderärztinnen und Kinderärzten.

Dr. med. Thomas Baumann
Mitherausgeber Pädiatrie up2date