Psychiatrie und Psychotherapie up2date 2012; 6(04): 193-194
DOI: 10.1055/s-0032-1305044
Editorial
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Brauchen wir immer neue diagnostische Störungsgruppen?

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Publication Date:
09 July 2012 (online)

Klassifikationssysteme wie die International Classification of Diseases (ICD) der World Health Organisation (WHO) bzw. das Diagnostic and Statistical Manual (DSM) der American Psychiatric Association (APA) unterliegen einem stetigen Wandel. Früher wurden ca. alle 10 Jahre Veränderungen in Form von Neuauflagen vorgenommen. Seit der Publikation der ICD-10 im Jahr 1992 und des DSM-IV im Jahre 1993 sind glücklicherweise zwischenzeitlich fast 20 Jahre vergangen, sodass im Hinblick auf die anstehenden Revisionen (DSM-5 und ICD-11) einige Überlegungen sinnvoll erscheinen bezüglich der Aufnahme neuer Störungskategorien.

Verfolgt man speziell die Entwicklung des DSM, so zeigt sich seit der 1. Auflage im Jahre 1952 bis heute fast eine Vervierfachung der diagnostischen Kategorien. Inwieweit diese Entwicklung gerechtfertigt ist, ist zumindest fraglich. Bedenkt man die vielfältigen Forschungsaktivitäten der vergangenen Jahrzehnte, so ist die Bereitschaft neue Kategorien aufzunehmen relativ groß. Besonders deutlich ist die Erweiterung diagnostischer Einheiten bei der Einführung des DSM-III zu erkennen. Speziell 1980 wurde eine Reihe von diagnostischen Kategorien neu eingeführt wie die PTBS, die generalisierte Angststörung (GAS), die soziale Phobie oder auch die Panikstörung, die heute als Prototypen von Angsterkrankungen anzusehen sind. Sie wurden damals erstmals operationalisiert und initiierten eine Vielzahl von Forschungsaktivitäten. Aber auch die Herausgabe der ICD-10 war mit einer Reihe diagnostischer Neuerungen verbunden, z. B. die Einführung der Kategorie Demenz bei HIV-Erkrankungen (F02.04) oder rezidivierender kurzer depressiver Störungen (F38.10). Beide basierten auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Ein Hauptproblem bezüglich des Ein- oder Ausschlusses von Kategorien besteht darin, dass bis zum heutigen Tag keine verbindlichen Kriterien existieren, wann eine diagnostische Störungsgruppe in ein Klassifikationssystem aufgenommen werden soll. Meist erfolgt dies mehr oder weniger willkürlich, in der Regel als Konvention von Organisationen (WHO oder APA). Die wenigen in der Literatur publizierten Vorschläge werden dabei weitestgehend ignoriert. Deren Berücksichtigung scheint jedoch sehr sinnvoll zu sein, um der Willkür einen Riegel vorzuschieben. Exemplarisch sei die Arbeit von Blashfield et al. aus dem Jahre 1990 genannt, die explizite Kriterien für den Ein- und Ausschluss von diagnostischen Einheiten enthält. So schlagen die Autoren u. a. vor, dass – bevor eine diagnostische Einheit eingeführt werden soll – mindestens 50 Studien dazu publiziert sein sollten und zusätzlich mindestens 25 empirische. Ebenso sollten hinreichende Belege für die Interrater-Reliabilität in 2 Studien nachgewiesen werden. Andererseits fordern sie den Ausschluss von diagnostischen Einheiten, wenn sich in den letzten Jahren weniger als 20 Arbeiten mit dieser Kategorie beschäftigt haben bzw. die Störungen kaum noch in Studien genannt werden. Die klassischen Vorschläge zur Validierung von Diagnosen von Robins und Guze aus dem Jahr 1970 werden zwar immer wieder zitiert, spielen jedoch praktisch keine Rolle bezüglich der Revision von Klassifikationssystemen. Auch wenn diese Kriterien mittlerweile nicht mehr dem aktuellen Stand des Wissens über Störungen entsprechen, haben auch die konzeptuellen Weiterentwicklungen (z. B. von Andreasen, Kendell oder Kendler) bisher keinerlei Konsequenzen gehabt. Letztlich bleibt der Einbezug von diagnostischen Einheiten eine Frage der Konvention der beteiligten Gremien.

Die Einbeziehung von neuen diagnostischen Kategorien in Klassifikationssysteme sollte nicht dem Trend von Modeerscheinungen folgen. Die bereits jetzt vorliegende Vielzahl von Störungen scheint viel zu weit aufgefächert zu sein. Sie entspricht in vielen Bereichen oft einer Pseudodifferenzierung, da u. a. die Anzahl von Möglichkeiten der Behandlung in keiner Relation zur Anzahl existierender Kategorien steht. Von daher scheint es sinnvoll, auch in Zukunft größere Zeiträume zwischen den einzelnen Revisionen von Klassifikationssystemen zu legen und entsprechende differenzierte Evaluationskriterien zur Aufnahme und Ausschluss von Störungen zu entwickeln. Diese sollten neueste Erkenntnisse berücksichtigen.

Rolf-Dieter Stieglitz, Basel