Aktuelle Urol 2012; 43(3): 167
DOI: 10.1055/s-0031-1284025
Kommentar
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Kommentar zur Arbeit von W. Otto et al. Sakrale Neuromodulation als Zweitlinien-Therapie

Comment to W. Otto et al. Sacral Neuromodulation as Second-Line Treatment Strategy
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Publication Date:
25 May 2012 (online)

Etwa 15 – 20 % der europäischen Bevölkerung weist Symptome des unteren Harntraktes (LUTS: low urinary tract symptoms) auf. Die Prävalenz der LUTS nimmt bekannterweise mit dem Alter zu. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung muss man mit einer steigenden Anzahl der Betroffenen in den nächsten Jahrzehnten rechnen. Daher ist es wichtig, die Behandlungskonzepte dieses für die Gesellschaft sozial und wirtschaftlich wirksamen Krankheitsbildes bereits heute zu etablieren. Umso bedeutsamer ist es, den Charakter sowie die Genese der LUTS (neurogene, nicht-neurogene Ursachen, Ausprägung der Miktions- oder Schmerzsymptome im Rahmen der LUTS) genau zu evaluieren, um eine unnötige Therapiekaskade zu vermeiden.

Gegenwärtig nimmt die Anzahl von wirksamen präventiven sowie kurativen konservativen und minimalinvasiven Maßnahmen zur Behandlung der LUTS deutlich zu. So kommen operative Verfahren wie Harnblasenaugmentation oder Harnableitung dank der Anwendung des Botulinumtoxins Typ A zur Behandlung der neurogenen Blasenfunktionsstörungen deutlich seltener zum Einsatz. Diese Methode ist für Patienten mit neurogenen LUTS bereits zugelassen.

Die Entwicklung der sakralen Neuromodulationstherapie (SNM) in den 90er-Jahren revolutionierte die Behandlungsstrategien bei therapierefraktären Harnblasendysfunktionen. Die Einführung der Detrusorinjektionen mit Botulinumtoxin Typ A bei Patienten mit nicht-neurogenen Blasensymptomen führte jedoch zu einer zurückhaltenden Indikationsstellung zur SNM. Dies spiegelte sich in einer deutlichen Abnahme der Anzahl der Publikationen über SNM wider. Gleichzeitig wurde vermehrt über positive Effekte der Botulinumtoxin-Injektion in den Detrusor bei nicht-neurogenen Blasenfunktionsstörungen berichtet. Nichtsdestotrotz wird die Anwendung vom Botulinumtoxin bei dieser Indikation aktuell immer noch als experimentell angesehen.

Die Studie von Otto et al. beschäftigt sich mit der Frage nach der Wirksamkeit der SNM bei Patienten mit LUTS verschiedener Ätiologie. Die Autoren berichten über ihre Erfahrungen zur Behandlung von insgesamt 47 Patienten mit LUTS idiopathischer (OAB-Syndrom), neurogener Genese (bei multipler Sklerose) sowie bei Blasenschmerzsyndrom.

Die Ausprägung der irritativen, obstruktiven Miktionssymptome oder Schmerzsymptome unterliegt individuellen Schwankungen, meist bedingt durch Unterschiede in der Genese der LUTS. Diese Tatsache ist neben einer unzureichenden Diagnostik häufig die Ursache für ein Therapieversagen. Insbesondere betrifft dies die unkritische „off-label“-Anwendung des Botulinumtoxins bei nicht-neurogenen LUTS. Darum betont die vorliegende Studie die Bedeutung einer präzisen prätherapeutischen Diagnostik der LUTS.

Die Ergebnisse der Studie stehen im Einklang mit international publizierten Arbeiten. Dies betrifft sowohl die gute Ansprechrate nach Teststimulation als auch die Ergebnisse in der Gruppe der nicht-neurogenen LUTS idiopatischer Genese (z. B. Patienten mit OAB-Syndrom). Die geringe Anzahl der eingeschlossenen Patienten sowie eine kurze Nachbeobachtungszeit lassen jedoch keine statistisch sowie klinisch relevanten Rückschlüsse auf die Effektivität des Verfahrens anhand der Studie zu. Insbesondere betrifft dies die Patienten mit multipler Sklerose und Blasenschmerzsyndrom.

Die Ergebnisse nach SNM beim chronischen Blasenschmerzsyndrom sind weiterhin nicht zufriedenstellend. Da nicht nur die LUTS sondern auch die Schmerzsymptomatik die Lebensqualität der Betroffenen deutlich beeinträchtigt, sollte die Effektivität der Therapie nicht nur anhand der LUTS-Reduktion, sondern erst nach einer langen Nachbeobachtungszeit beurteilt werden. Diese Frage muss in zukünftigen Studien noch geklärt werden. Bis dahin wird die SNM weiterhin als die ultima ratio beim Blasenschmerzsyndrom gelten.

Dr. Alexander Gabuev