DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2010; 8(04): 4
DOI: 10.1055/s-0030-1254424
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Im Gespräch mit ...Piet Dijs

Ulrike von Tümpling
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Publication Date:
12 October 2010 (online)

Piet Dijs D.O. M.S.B.O., Member of the Cranial Academy (USA), wurde in Frankreich ausgebildet und vom Magoun-Schüler Bernard Barillon unterrichtet. Dijs dozierte von 1984 an viele Jahre lang an zahlreichen Osteopathieschulen in Europa. 2000 gründete er das Konfortos Fortbildungsinstitut. Zusammen mit René Briend D.O. unterrichtet er biokinetische und biodynamische Aspekte in der Osteopathie. Daneben bilden er und sein Team in Mainz Sehbehinderte und Blinde zu Osteopathen aus und bieten Kinderkurse an.

Piet, Du zählst zu den namhaften Osteopathen. Was hat Dich zur Osteopathie geführt?

Schon als Kind habe ich die Natur geliebt und war gleichzeitig sehr neugierig und lernbegierig ihre tieferen Hintergründe zu erfahren. Hinter jeder Erklärung, die ich fand, verbarg sich gleich eine neue Frage. Das hat mich bis heute immer wieder angetrieben. Ich glaube, das war auch der Grund dafür, dass mich meine Reise von der Medizin über die Physiotherapie und jede Menge Weiterbildungen schließlich zur Osteopathie geführt hat. Über diesen beruflichen Lebensweg bin ich sehr glücklich.

Du hast lange Zeit am College Sutherland unterrichtet. Man fürchtete und liebte Dich zugleich. Was erwartest Du von einem angehenden Osteopathen?

Offen zu sein für die Philosophie und die Prinzipien der Osteopathie, um sie aufzunehmen und nicht zu einem Sammler von Techniken und Jäger somatischer Dysfunktionen zu werden.

Offenheit für das Leben hinter dem Leben, die Gesundheit hinter der Gesundheit und für den Menschen in seinem Umfeld im weitesten Sinne. Das heißt, offen sein für alle Ebenen der Primären Respiration, also für den „Mechanismus“ in seiner Gesamtheit. Sonst wird Osteopathie zu einer bloßen manuellen Therapie.

Angehende Osteopathen sollten das systematische Vorgehen verstehen, das sich aus den Prinzipien der Osteopathie herleitet. „Know the mechanism, treatment is simple“, ist eine wichtige Aussage in der osteopathischen Wissenschaft. Darauf kann man aufbauen und sich mithilfe des D.O. – im Sinne von „Dig on“ – weiterentwickeln. Dann wird man auch feststellen, dass „know the mechanism“ nicht nur auf der Ebene des physischen Körpers mit seiner biomechanischen Systematik wichtig ist. Der „Mechanismus“ kennt keine Grenzen und die Osteopathie deshalb auch nicht!

Außerdem darf man nie ohne Diagnostik behandeln. Nach der osteopathischen Grundausbildung sollte das Gefühl da sein, dass mit der klinischen Erfahrung erst alles anfängt. Denn jetzt öffnet sich das beste Lehrbuch für die Osteopathie: der Kranke mit seiner Gesundheit. Still hat nicht umsonst gesagt: „Die Gesundheit zu finden, ist die Tätigkeit eines Osteopathen.“ So bleibt ein Osteopath lebenslang ein Schüler.

Du sprichst von der Osteopathie als Hobby. Was fasziniert Dich an Deinem Hobby und was ist dann Dein Beruf?

Hobby ist zu wenig. Osteopathie ist mein Leben. Und Gott sei Dank ist sie anwendbar. So konnte die Osteopathie zu meinem Beruf werden und deshalb kann ich sie auch leben.

Aber man muss aufpassen, nicht zu übertreiben. Vor mehreren Jahren rief ein Kollege bei mir zu Hause an. Meine Frau sagte ihm, dass ich nicht da sei. Das passierte mehrmals in kurzem Abstand. Schließlich hat ihm meine Frau gesagt: „Er ist wieder nicht da, er hat nämlich eine Geliebte.“ Am anderen Ende der Leitung herrschte Grabesstille. Meine Frau fuhr fort und sagte: „Und diese Geliebte heißt Osteopathie.“ Da folgte lautes Gelächter und mein Kollege antwortete, dass seine Frau genau das Gleiche von ihm sage.

Dein Lebensweg hat Dich zurück nach Holland geführt, wo Du mit Deiner Frau inmitten der Natur lebst. Deine Familie züchtet Pferde und Hunde sind eure ständigen Begleiter. Erzähl uns bitte davon.

Wir waren nie wirklich fort aus Holland. In der Schweiz hatten wir ein 2. Haus und da ich immer öfter in der Schweiz arbeitete, wurde das 2. Haus fast zu unserem Hauptwohnsitz.

Aber meiner Frau fehlten ihre Pferde und ihr Freundeskreis so sehr, dass wir wieder nach Holland gezogen sind. Einer meiner 3 Söhne wohnt nicht weit weg von uns. Er hat die Leidenschaft meiner Frau für Pferde geerbt und sie kann wieder den Umgang mit den Pferden genießen. Ich habe meinen Hund, einen 5 Jahre alten Hovawart. Wir gehen jeden Tag zweimal Fahrradfahren. Auf diese Art bleiben wir beide in Bewegung.

Du hast erzählt, dass Du Dich auf eine 700 km lange Fahrradtour nach Frankreich vorbereitest, um dort Deinen jüngsten Sohn zu besuchen. Was gibt Dir die Kraft, trotz der körperlichen Beschwerden, das auf Dich zu nehmen und Deinen Weg zu gehen?

Ich kann nicht anders als meinem Weg zu folgen. Es ist einfach: Was ich tue, macht mir Spaß und ermüdet mich deshalb nicht wirklich. Angeblich habe ich viel Gesundheit in mir. Meine Verbindung mit der Quelle der Gesundheit scheint in Ordnung zu sein, sodass ich daraus immer wieder schöpfen und trotz vieler körperlicher Schwierigkeiten meinen Weg gehen kann.

Mein jüngster Sohn hat einen großen Bauernhof in der Normandie. Für die Radtour zu ihm hatte ich zwar gut trainiert, aber durch eine Notoperation musste ich die Tour leider verschieben oder werde sie auch ganz abblasen müssen. Man sollte flexibel sein.

Dafür erhole ich mich gern in der Natur. Hier auf unserem Bauernhof genieße ich es, den Ruhe ausstrahlenden Kühe beim Grasen zuzusehen, das Wachsen des Getreides zu verfolgen und Vögel und Wild zu beobachten.

Vor 10 Jahren hast Du das Konfortos Fortbildungsinstitut gegründet. Seit mehreren Jahren unterrichten Du und Dein Team nicht sehende Menschen in Osteopathie. Welche Erfahrung hast du dabei gemacht?

Man muss sich sehr genau ausdrücken; so wie ein Kunstexperte ein Gemälde für Leute beschreibt, die nicht sehen können und keine oder kaum Kenntnisse haben. Zudem haben Blinde oft ein schlech-tes Körpergefühl. Unsere Sehbehinderten und Blinden werden mit den Augen nicht sehen lernen, aber sie lernen immer besser mit ihren Händen und ihrem ganzen Körper zu sehen. Das ist genau das, was sog. Sehende in der Osteopathie auch lernen müssen. Die Blinden tun es schon. Sie „holen“ sich nicht das Bild, sondern lassen es auf sich zukommen. Sie müssen die Palpation loslassen, um der Perzeption die Chance zu geben sich weiterzuentwickeln. Meine Erfahrung ist, dass wenn sie diesen Mut aufbringen, können sie besser als sog. Sehende werden. Gerade auf der tieferen Ebene der Osteopathie sind sie dann wirklich begnadet und verstehen es, mit Palpation und Perzeption zu spielen. Beim Unterricht sind sie unermüdlich, sehr motiviert und sehr anspruchsvoll.

Können Blinde ein Vorbild für uns sein?

Ich denke schon. Unsere Teilnehmer entwickeln im Laufe ihrer Ausbildung eine sehr viel bessere Wahrnehmung ihres Körpers und der nahen und weiteren Umgebung. Oft kann man im Unterrichtsraum nur anhand der Blindenführhunde feststellen, dass sie sehbehindert oder blind sind. Sie genießen die Früchte ihrer harten Arbeit und stellen fest, dass sie sich durch die Natur leiten lassen können und dabei eine Einheit zwischen Mensch und Umgebung entsteht.

Ich erinnere mich an ein Ereignis aus dem ersten Jahr der Ausbildung: Nach einer osteopathischen Diagnostik und einer angepassten, biomechanischen, strukturellen Behandlung sagten mehrere Studenten, dass sich ihre Gewebewahrnehmung verändert habe. Sie konnten also schon zu Beginn ihrer Ausbildung die vitalen Kräfte wahrnehmen! Da wird man als Dozent ganz still und fühlt sich dafür verantwortlich diese Perzeptionsqualität nicht ersticken zu lassen in der Kakophonie der sog. parietalen, viszeralen und kranialen Techniken innerhalb der biomechanischen Systematik.

Was fällt Dir zum Begriff Ego ein?

Ein wichtiger Begriff. Man sollte sein Ego kennen und immer wissen, wo es gerade steht; manchmal stark im Vordergrund, meist im Hintergrund und manchmal fast verschwunden. Man braucht sein Ego zum Überleben, aber zum Leben muss man es im Hintergrund halten. Mit dem Ego kann man zwar kucken, aber nicht wirklich sehen. Man sieht nur, was sich in der direkten Umgebung befindet und nicht, was weiter weg und jenseits unseres Horizontes liegt.

Unsere Aufgabe besteht darin, mit unserem Ego spielerisch umgehen zu lernen. Nur dann können wir das Leben vollständig genießen. Ohne diese Vollständigkeit ist auch keine Osteopathie möglich. Denn unser Ego ist ein einschränkendes Element, wenn wir Osteopathie anwenden. Osteopathie hat keine Grenzen. Es ist der Osteopath, der Grenzen schafft! Seien wir uns deshalb unseres Egos bewusst und lassen wir es im Hintergrund, damit anderes, wie die Primäre Respiration in den Vordergrund treten kann. Die Primäre Respiration ist Gesundheit. Die Gesundheit im Vordergrund zu haben, ist eine wichtige Voraussetzung für jede osteopathische Behandlung.

Und um abschließend von meinem Ego zu sprechen: Ich wünsche mir, dass dieses Interview den Leserinnen und Lesern etwas bringen möge. Das würde meinem Ego gut tun. Mich hat es schließlich viele Jahre gekostet, diese Frage überhaupt einigermaßen beantworten zu können.

Lieber Piet, vielen Dank für das Gespräch.

Online zu finden unter:

www.dx.doi.org/10.1055/s-0030-1254424

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Abb. 1 „Ich habe meinen Hund, einen 5 Jahre alten Hovawart. Wir gehen jeden Tag zweimal Fahrradfahren.“Foto: © privat