physioscience 2010; 176(4): 133-134
DOI: 10.1055/s-0029-1245859
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Forschung in der Physiotherapie bei unspezifischen Rückenschmerzen

Diagnostik von Subgruppen, Entwicklung spezifischer BehandlungenJ. Kool1
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Publication Date:
13 December 2010 (online)

Rückenschmerzen verursachen insbesondere durch Arbeitsunfähigkeit beträchtliche Kosten und betragen in der Schweiz jährlich ca. 7 Milliarden CHF [11]. Bisherige Effektivitätsstudien zusammenfassende Metaanalysen zeigen, dass Physiotherapie auch die Arbeitsfähigkeit verbessert [5] [10].

Physiotherapie hat bei der Behandlung unspezifischer lumbaler Rückenschmerzen (non-specific low back pain, NSLBP) einen wichtigen Stellenwert. Bei subakuten und chronischen Rückenschmerzen wird Bewegungstherapie empfohlen. Auch in der multidisziplinären Rehabilitation nimmt die Physiotherapie einen zentralen Platz ein.

Leider sind die Effekte der Physiotherapie jedoch gering. Eine Verbesserung der Wirksamkeit ist sehr wünschenswert, sowohl im Interesse der Patienten als auch der Gesellschaft, die durch die hohen Kosten stark belastet wird [11].

Mehrere in einer Metaanalyse zusammengefasste Studien verglichen die Effektivität unterschiedlicher Behandlungen [10]. Diese Metaanalyse fand keine Hinweise, dass die Art der angewendeten Bewegungstherapie einen Einfluss auf den Effekt der Behandlung hat. Eine mögliche Ursache dafür ist, dass die in den Studien behandelten Patientengruppen zu heterogen sind [10].

In Anbetracht der großen Anzahl von Effektivitätsstudien im Bereich NSLBP und der geringen Effekte von Physiotherapie könnte man meinen, weitere Studien würden sich kaum lohnen. Die gesellschaftliche Bedeutung von Rückenschmerzen und die damit verbundenen Kosten sind jedoch so groß, dass weitergehende Forschung dringend notwendig ist. Dabei stehen in letzter Zeit 2 Hauptrichtungen vermehrt im Interesse: Zum einen die Verbesserung der Diagnostik zur Identifikation von Subgruppen innerhalb der großen Gruppe von Patienten mit NSLBP und damit einhergehend die Entwicklung spezifischer Behandlungsansätze für diese Subgruppen [4].

In seinem Vorschlag für eine Klassifikation beschreibt O’Sullivan [8] als 1. Subgruppe Patienten mit spezifischen Rückenschmerzen wie Nervenwurzelkompressionen, Frakturen und anderen ernsthaften Pathologien, deren Häufigkeit auf 5-10 % aller Patienten mit LBP geschätzt wird. Die anderen Patienten mit NSLBP unterteilt er in Patienten mit zentralen und solche mit peripher ausgelösten Schmerzen. Bei den nach seiner Schätzung etwa 30 % der von zentralen Schmerzen betroffenen Patienten spielen psychosoziale Faktoren wie Katastrophisieren, Angstvermeidungsverhalten und Depression eine wichtige Rolle. Innerhalb der Gruppe mit peripheren Schmerzen unterscheidet die diagnostische Einteilung Patienten mit Movement impairment oder einer Einschränkung der Beweglichkeit (ca. 30 %) und solche mit einem Movement control impairment (MCI, ca. 30 %). Bei MCI klagen die Betroffenen über Beschwerden in gewissen Positionen wie Sitzen oder Stehen. Die Beschwerden können durch Flexion, Extension, Rotation oder kombinierte Bewegungen ausgelöst werden [8].

In den meisten Effektivitätsstudien wurden die Patienten ungenügend in derartige oder ähnliche Subgruppen eingeteilt und entsprechend der klinischen Einteilung behandelt [5] [10]. Das kann zu einer Reduktion der Effekte der untersuchten Behandlungen geführt haben und ein Grund dafür sein, dass bei den unterschiedlichen Behandlungen kein Unterschied im Effekt nachweisbar war.

Zur Veranschaulichung nehmen wir im folgenden einfachen Beispiel an, dass eine Studie Patienten mit NSLBP aus 2 gleich großen Subgruppen einschließt. Die 1. Subgruppe besteht aus Patienten mit Beschwerden in Zusammenhang mit Einschränkungen der Mobilität der Wirbelsäule oder Movement impairment. Die 2. Subgruppe umfasst Patienten mit einer Reduktion der Bewegungskontrolle bzw. Movement control impairment. Im Rahmen der randomisierte Effektivitätsstudie wird diese gemischte Gruppe in 2 ebenfalls gemischte Behandlungsgruppen unterteilt. Eine Gruppe wird mit Physiotherapie zur Reduktion der Bewegungskontrolle, die andere mit Physiotherapie zur Verbesserung der Mobilität der Wirbelsäule behandelt. In beiden Gruppen wird jeweils die Hälfte der Patienten optimal behandelt, während die andere Hälfte die „falsche” und nicht effiziente Behandlung erhält. Die Heterogenität der Gruppen führt dazu, dass der Effekt der untersuchten Behandlung im Durchschnitt über alle Patienten geringer ausfällt. Hinzu kommt, dass auch kein Unterschied zwischen den 2 Behandlungen nachgewiesen werden kann, da in beiden untersuchten Gruppen ein Teil der Patienten die optimale Behandlung bekommt. Insgesamt führt die Heterogenität der untersuchten Gruppe zu einer „Verwässerung” oder sogar zur gänzlichen Aufhebung des wahrgenommenen Effekts (washout-effect).

Die Entwicklung von breit anwendbaren klinischen Klassifikationssystemen für NSLBP steht erst am Anfang. Die Empfehlung ist deshalb, in der Forschung die klinische Diagnostik weiterzuentwickeln und Effektivitätsstudien bei definierten klinischen Subgruppen durchzuführen [5].

In den letzten Jahren hat unser Wissen über Bewegungsstörungen bei Patienten mit NSLBP stark zugenommen. So ist bekannt, dass die Bewegungskontrolle [6] und die Bewegungskoordination reduziert sind und sich die muskulären Aktivierungsmuster und Bewegungsabläufe bei Patienten mit LBP verändern [2] [3]. Bei Patienten mit NSLBP ist die 2-Punkte Diskriminierung vermindert, was auf eine reduzierte Repräsentation im Kortex hinweist [7] und die Haltungskontrolle verändert [9]. Die Untersuchungen bei Patienten mit NSLBP wurden mehrheitlich in Bewegungslaboren durchgeführt. Die verwendeten Methoden sind teuer, zeitintensiv und deshalb für die Anwendung in der Physiotherapie ungeeignet. Die physiotherapeutische Untersuchung und die visuelle Beurteilung der Bewegung sind aber für eine zuverlässige quantifizierte Beurteilung dieser Bewegungsstörungen unzulänglich. Deshalb benötigt die Physiotherapie dringend praktikable moderne Sensortechnologien zur Diagnostik und Behandlung, um Patienten mit Feedback das Bewegungslernen zu erleichtern und in einer interaktiven Spielumgebung die Motivation zu verbessern.

In letzter Zeit entwickeln verschiedene Hersteller unter Anwendung neuer Technologien Instrumente für die Physiotherapie [1]. Es ist zu erwarten, dass diese neuen Technologien der Physiotherapie in naher Zukunft wertvolle Instrumente zur Verfügung stellen, die einen quantifizierten Befund von Bewegungsstörungen ermöglichen sollten. Darauf aufbauend, können bei definierten Subgruppen von NSLBP-Patienten gezielte Behandlungen durchgeführt werden. Zusätzlich ermöglicht die Sensortechnik Feedback während der Behandlung und eine objektive Verlaufsdokumentation.

Literatur

  • 1 Brodbeck D, Degen M, Stanimirov M et al. BACKTRAINER - Computer-aided Therapy System with Augmented Feedback for the Lower Back. Second International Conference on Health Informatics, HEALTHINF. Porto/Portugal; 2009
  • 2 Dankaerts W, O’Sullivan P, Burnett A et al. Altered patterns of superficial trunk muscle activation during sitting in nonspecific chronic low back pain patients: importance of subclassification.  Spine. 2006;  31 2017-2023
  • 3 Dankaerts W, O’Sullivan P, Burnett A et al. Discriminating healthy controls and two clinical subgroups of nonspecific chronic low back pain patients using trunk muscle activation and lumbosacral kinematics of postures and movements: a statistical classification model.  Spine (Phila Pa 1976). 2009;  34 1610-1618
  • 4 Hayden J A, Tulder M W, Tomlinson van G. Systematic review: strategies for using exercise therapy to improve outcomes in chronic low back pain.  Ann Intern Med. 2005;  142 776-785
  • 5 Hayden J A, Tulder M W, Malmivaara A V et al. Meta-analysis: exercise therapy for nonspecific low back pain.  Ann Intern Med. 2005;  142 765-775
  • 6 Luomajoki van H, Kool J, Bruin E D et al. Movement control tests of the low back; evaluation of the difference between patients with low back pain and healthy controls.  BMC Musculoskelet Disord. 2008;  9 170
  • 7 Luomajoki de H, Moseley G L. Tactile acuity and lumbopelvic motor control in patients with back pain and healthy controls.  Br J Sports Med. 2010;  DOI: 10.1136 /bjsm.2009.060731
  • 8 O’Sullivan P. Diagnosis and classification of chronic low back pain disorders: Maladaptive movement and motor control impairments as underlying mechanism.  Manual Therapy. 2005;  10 242-255
  • 9 O’Sullivan P B, Dankaerts W, Burnett A F et al. Effect of different upright sitting postures on spinal-pelvic curvature and trunk muscle activation in a pain-free population.  Spine (Phila Pa 1976). 2006;  31 E707-E712
  • 10 Oesch P, Kool J, Hagen K B et al. Effectiveness of exercise on work disability in patients with non-acute non-specific low back pain: Systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials.  J Rehabil Med. 2010;  42 193-205
  • 11 Wieser S, Horisberger B, Schmidhauser S et al. Cost of low back pain in Switzerland in 2005.  Eur J Health Econ. 2010;  DOI: 10.1007 /s10198-010-0258-y

Dr. Jan Kool

PhD, Leiter Forschung & Entwicklung am Institut für Physiotherapie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Gesundheit

8401 Winterthur

Schweiz

Email: jan.kool@zhaw.ch

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