Fortschr Neurol Psychiatr 2010; 78(9): 503-504
DOI: 10.1055/s-0029-1245689
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die interdisziplinäre S 3-Leitlinie Demenzen: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie

The Interdisciplinary S3 Guidelines Dementia: Advances in Neurology and PsychiatryG. R. Fink1
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Publication Date:
08 September 2010 (online)

„Aktuelles zur Frühdiagnostik und -therapie demenzieller Erkrankungen”, „stürmischer medizinischer Erkenntnisfortschritt”, aber auch „erhebliche Unzulänglichkeiten in der Versorgung Demenzkranker” – weder das Feuilleton noch die medizinische Fachliteratur sparen mit Artikeln zum Thema Demenz. Die Herausforderungen in Anbetracht des demografischen Wandels unserer Gesellschaft sind klar, von der Politik erkannt und haben zu einer erheblichen zusätzlichen Forschungsförderung in allen Bereichen von der Ursachenforschung bis zur Versorgungsforschung geführt [1]. Auch die Fortschritte der Neurologie Psychiatrie widmen sich regelmäßig mit praxisrelevanten Beiträgen diesem wichtigen Thema [2] [3]. Bedarf es da eines weiteren Themenheftes zu Demenzen?

Die Antwort ist uneingeschränkt: Ja! Die Zunahme der demenziellen Erkrankungen führt nicht nur zu einer außerordentlich hohen Belastung des Gesundheits- und Sozialsystems (schon heute leidet die Hälfte der Pflegebedürftigen an einer Demenz, über 60 % aller deutschen Heimbewohner sind dement) – sie stellt auch den Neurologen und Psychiater vor große Probleme, mit dem stürmischen Erkenntnisfortschritt mitzuhalten, ihn zu filtern und angemessen in das praxisrelevante Tun und Handeln zu integrieren. Dies ist die eigentliche Herausforderung für die behandelnden Ärzte – gerade auch in Anbetracht der Flut neuester und jeweils als „bahnbrechend” oder „wegweisend” gefeierter „Durchbrüche” in der Ursachenforschung und Behandlung von Demenzpatienten. Änderungen von Demenzkriterien, neue zusatzdiagnostische Befundkriterien als Unterstützung zur Diagnosestellung, wie die mediotemporale Atrophie (hippocampal, entorhinal), abnorme Liquor-Biomarker (Amyloid-β1 – 42, total-Tau, Phospo-Tau), „charakteristische” Befunde in der funktionellen Bildgebung (PET; Glukosestoffwechsel, Plaqueimaging, etc.) oder nachgewiesene autosomal dominante Mutationen in der Kernfamilie; mit all dem Schritt zu halten und es abzugrenzen von der Flut all der anderen Meldungen wissenschaftlicher Fortschritte ist zunehmend schwierig und wird für den Einzelnen, der sich nicht exklusiv mit dem Thema beschäftigen kann, nahezu unmöglich.

Hier leistet die neue interdisziplinäre S 3-Leitlinie Demenzen einen wertvollen Beitrag, sie ist ein echter Fortschritt in der Neurologie und Psychiatrie. S 3-Leitlinien stellen die höchste Entwicklungsstufe von Leitlinien dar: Für S 1-Leitlinien erarbeiten Experten einen informellen Konsens. S 2-Leitlinien folgen einer formalen Konsensfindung oder formalen „Evidenz”-Recherche. S 3-Leitlinien basieren auf allen Elementen einer systematischen Entwicklung, wie Logik-, Entscheidungs- und „Outcome”-Analysen, Bewertung der klinischen Relevanz wissenschaftlicher Studien und deren regelmäßiger Überprüfung [3]. Die unter Federführung der beiden Fachgesellschaften DGN und DGPPN erstellte interdisziplinäre Leitlinie ist seit November 2009 auf den Homepages der Fachgesellschaften (DGN: www.dgn.org; DGPPN: www.dgppn.de) abrufbar und wurde unter Mitwirkung der Alzheimer-Gesellschaft und 28 (!) weiterer wissenschaftlicher Gesellschaften erstellt. Der breite Konsensusprozess erlaubt es, der S 3-Leitlinie Demenzen eine hohe Verbindlichkeit für die Praxis zuzusprechen: erstmals liegen geeinigt über die Fachgrenzen hinweg Leitlinien für Diagnostik, Therapie und auch Versorgung vor, die es jedem mit Demenzpatienten in Kontakt tretenden Arzt ermöglichen, sich schnell und sicher an den modernsten Standards zu orientieren. Praxisnah werden diagnostische Schritte und deren Wertigkeit erläutert. Die Therapieempfehlungen sind detailliert und berücksichtigen nicht nur die Pharmakotherapie, sondern auch die Prävention, psychosoziale Interventionen und „supportive” Maßnahmen. Der beste Behandlungspfad wird somit für jeden Arzt nachvollziehbar. Der Versorgung der Patienten und dem Einbeziehen der Angehörigen wird der notwendige Stellenwert detailliert eingeräumt.

Die interdisziplinäre S 3-Leitlinie Demenzen ermöglicht somit die konsequente Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse in der Versorgung von Demenzpatienten – sie stellt gerade deswegen einen echten Fortschritt in der Neurologie und Psychiatrie dar (Wallesch; Jessen). Dementsprechend werden einige wesentliche Aspekte der Leitlinie in diesem Themenheft vertieft: Demenzen bei Morbus Parkinson (Eggers et al.), Neuropsychologische Diagnostik (Kessler et al.) und Therapie (Kalbe et al.) der Demenzen und die Betreuung/Versorgung von Patienten mit Demenz (Gräßel et al.). Für die Fortschritte der Neurologie Psychiatrie ist die S 3-Leitlinie aber auch Grund zur Freude, weil die gemeinsam erstellte Leitlinie die Verbundenheit der beiden bisweilen ja auch auseinanderstrebenden Fächer unterstreicht und aufzeigt, wie wichtig, aber auch zeitnah und modern die weitere interdisziplinäre und gemeinsame Versorgung unserer neurologischen und psychiatrischen Patienten ist.

Die zitierte Literatur finden Sie unter:

http://dx.doi.org/10.1055/s-0029-1245689

Prof. Dr. Gereon R. Fink

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Prof. Dr. Gereon R. Fink

Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie, Uniklinik Köln

Kerpener Straße 62

50937 Köln

Email: gereon.fink@uk-koeln.de

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