Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2010; 42(1): 33-34
DOI: 10.1055/s-0029-1242589
Praxis
Das Interview
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

„Die verminderte Stresstoleranz des älteren Patienten quantifizieren und darauf die Therapieentscheidung gründen”

Geriatrische Onkologie
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Publication Date:
25 March 2010 (online)

Medizinische Ausbildung am Klinikum Großhadern in München und der Humboldt-Universität zu Berlin. Habilitation über Untersuchungen zur oxidativen Lungenbelastung unter Radiochemotherapie bei Patienten mit fortgeschrittenem Bronchialkarzinom. Gründungsmitglied der Arbeitsgruppe Geriatrische Onkologie im Tumorzentrum München. Seit Mitte 2009 Ärztlicher Leiter der Abteilung für Onkologie und Gastroenterologie in der Bayerwald-Klinik in Cham.

DZO: Was hat sich Ihrer Meinung nach in den letzten Jahren bei der Behandlung von alten Menschen in der Onkologie verändert?

PD Dr. Beinert:

Seit Jahrzehnten wird über die Unterversorgung älterer Tumorpatienten gesprochen, die Fachgesellschaften, etwa die DGHO, führen entsprechende Arbeitskreise. Ich glaube aber, dass erst in den letzten Jahren, auch mit Hinblick auf gesamtgesellschaftlich wirtschaftliche Veränderungen, der epidemiologische Wandel in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist. Daraus resultiert auch eine vermehrte Beschäftigung mit dem Thema geriatrische Onkologie, was sich auch in den vermehrten publikatorischen Aktivitäten auf diesem Gebiet widerspiegelt.

DZO: Wo sehen Sie die Grenzen einer optimalen Betreuung in der geriatrischen Onkologie?

PD Dr. Beinert:

Hier findet sich ein gegenläufiger Prozess zwischen medizinischer Erkenntnis, welche Verfahrensanwendungen für ältere Tumorpatienten sinnhaft wären, und der Entwicklung der akut stationären Behandlung. Die optimale Betreuung des geriatrisch onkologischen Patienten bedeutet, dass er sowohl geriatrisch als auch onkologisch behandelt wird. In der Geriatrie wissen wir, dass der ältere Patient geringer und langsamer regenerierungsfähig ist als der jüngere, man braucht also mehr Zeit. Deshalb wäre eine optimale Betreuung die Kombination eines geriatrisch-rehabilitativen Ansatzes, bei dem gleichzeitig onkologisch behandelt, also in der Regel zytoreduktive Therapie gegeben wird. Ganz wesentlich ist hierbei auch eine intensive psychoonkologische Betreuung, denn der ältere Patient ist psychosozial weniger stabilisiert als der jüngere und muss nun „zusätzlich” noch eine maligne Erkrankung verarbeiten.

DZO: Gibt es auch Studien, die sich mit der Fragestellung beschäftigen, inwieweit biologische Maßnahmen in der geriatrischen Onkologie hilfreich sind?

PD Dr. Beinert:

Hier darf ich gegenfragen, was eine „biologische Maßnahme” im eigentlichen Sinne bedeutet. Ich würde hier die Rolle insbesondere der Supportiva sehen, die zum Großteil antioxidativ wirksam sind. Weitere Studien zu diesem Fragenkomplex sind mir allerdings nicht bekannt.

DZO: Viele ältere Menschen haben aufgrund von vorliegenden Begleiterkrankungen und der eingeschränkten Leber- und Niereninsuffizienz ein höheres Komplikationsrisiko insbesondere unter Chemo- und Strahlentherapie. Wie schätzen Sie die Gefahr einer Übertherapie älterer Menschen ein?

PD Dr. Beinert:

Das ist ein ganz zentrales Problem in der geriatrischen Onkologie. Wegen teils irrationaler Ängste werden diese Patienten in der Regel unterversorgt, die Gefahr einer Überversorgung besteht kaum. Nun besteht die Kunst darin, die verminderte Stresstoleranz des älteren Patienten nach Möglichkeit zu quantifizieren und darauf die Therapieentscheidung, sowohl was die Medikamente als auch was deren Dosierung angeht, zu gründen. Aus eigener langjähriger Erfahrung ist hierfür das geriatrische Assessment, seit Jahrzehnten Grundlage evident basierten Handelns in der Geriatrie, ausgezeichnet geeignet. Es gibt vor Einleitung einer Therapie einen Überblick über die wahrscheinliche Behandlungsfähigkeit des älteren Patienten. Unter der Therapie sollte es regelmäßig wiederholt werden, weil es durch seine zentralen Dimensionen der Autonomie und Mobilität letztlich die Frage der Lebensqualität des Patienten unter Therapie beantwortet.

DZO: Und wann halten Sie ein eher abwartendes therapeutisches Verhalten für sinnvoll?

PD Dr. Beinert:

Es ist ein seltsamer, immer noch weit verbreiteter Irrtum, dass der Tumor im Alter weniger aggressiv wachsen würde als beim jüngeren Patienten. Dies ist definitiv Unsinn, ein Tumor verhält sich wie ein Fremdkörper in einem Wirt, die Tumorverdoppelungszeit ist etwa in einer Patientin mit Mammakarzinom, die 50, 60, 70 oder 80 Jahre alt ist, gleich lang. Ein abwartendes Verhalten ist immer dann in der Onkologie sinnvoll, wenn man keine vernünftige Therapieoption anbieten kann oder Sorge hat, dass der Effekt der Therapie im Vergleich zu ihrer Toxizität die Lebensqualität des Patienten vermindert. Daher ist eine sehr sorgfältige Durchführung jedwelcher Therapie beim älteren Patienten besonders wichtig.

DZO: Welche Entwicklungen in der Betreuung alter Menschen erwarten Sie in der Zukunft? Welche Probleme/Herausforderungen in der Versorgung alter Menschen werden auf uns zukommen?

PD Dr. Beinert:

Die adäquate Therapie älterer Tumorpatienten ist aufwendig. Gleichzeitig wird es eine Verknappung der Ressourcen geben, ein Widerspruch, der nur gemeinsam mit der Politik und gesamtgesellschaftlich zu lösen sein wird. Aktuell wäre eine gute Entwicklung, wenn sich geriatrische Zentren interdisziplinär mit Onkologen vernetzen und Onkologen und Geriater gemeinsam Therapieangebote für diese Patienten entwickeln. In diese Konzepte müssen die Kostenträger mit eingebunden werden.

DZO: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Was tun Sie für sich, um gesund zu bleiben?

PD Dr. Beinert:

Viel Zeit bleibt bei der beruflichen Belastung nicht, aber ich versuche, das zu tun, was wir alle tun sollten: ein wenig Sport und gesunde Ernährung.

DZO: Herr Dr. Beinert, vielen Dank für das Gespräch.

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Thomas Beinert

Onkologie
Bayerwald-Klinik

Klinikstraße 22

93413 Cham

Email: beinert@bayerwaldklinik.de

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