Zahnmedizin up2date 2009; 3(3): 251-262
DOI: 10.1055/s-0029-1185665
Implantologie

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sofortversorgung und Sofortbelastung von Implantaten

Marcus F. Abboud, Gerhard Wahl
Further Information

Publication History

Publication Date:
25 May 2009 (online)

Einleitung

Die Voraussetzung zur Erfolgssicherung eines therapeutischen Implantatkonzepts liegt in der Entwicklung und Aktualisierung von standardisierten, auf den individuellen Patientenfall abgestimmten Behandlungsprotokollen. Eine langwierige Behandlungsdauer, der vorübergehende Verzicht auf einen gut passenden Zahnersatz sowie das Tragen von herausnehmbaren Interimsprothesen werden von Patienten heute nur bedingt akzeptiert und führen nicht selten zur generellen Ablehnung einer Implantattherapie. Der Fokus der modernen Implantologie liegt auf der Erarbeitung von Behandlungsprotokollen, bei denen implantatgetragene Suprakonstruktionen provisorisch oder permanent schnell und einfach eingegliedert werden können. Vorhersagbare Ergebnisse verbunden mit hohen Erfolgsraten in Publikationen und der Wunsch von Patienten und Zahnärzten, die Behandlungszeiten zu verkürzen, geben Anlass, die Erfolgskriterien in der implantatprothetischen Versorgung kritisch zu hinterfragen und die Möglichkeiten einer beschleunigten Therapie zu reflektieren.

Prozess der Osseointegration

Der Osseointegrationsprozess ist maßgeblich von dem Allgemeinzustand und eventuell vorhandenen Grunderkrankungen abhängig. Eine systematische individuelle Anamnese des Patienten vor Behandlungsbeginn ist damit zwingend erforderlich. Risikofaktoren und Hochrisikofaktoren für eine implantologische Behandlung können aus den Statements der ITI-Konsensus-Konferenz entnommen werden [[1]].

Primärstabilität. Die ursprünglich empfohlenen Einheilzeiten beziehen sich auf einen gesunden Patienten und erwiesen sich in der Vergangenheit als sichere Zeitspanne für eine ungestörte und zuverlässige knöcherne Integration. Direkt nach der Implantatinsertion liegt eine rein mechanische Stabilität – „Primärstabilität“ – vor, die maßgeblich durch 3 Faktoren beeinflusst wird:

  • die lokale Knochenqualität und ‐quantität des Patienten,

  • die passgenaue und schonende Implantatbett-Aufbereitung,

  • die Makrostruktur des Implantats.

Remodelling Im Rahmen der Knochenheilung kommt es aufgrund des operativen Traumas zum Remodelling des Knochens [2]. Unter Remodelling versteht man die Möglichkeit des Knochens, sich durch Umbauvorgänge an die veränderten Belastungen anzupassen und einen möglichen Defekt, hier nach der Präparation des Implantatbetts, zu „reparieren“. Bedingt durch das Trauma der Implantatbett-Präparation kommt es zu einer Knochenschädigung; die nekrotischen Knochenbereiche werden abgebaut und die Knochenneubildung im Präparationsspalt und an der Implantatoberfläche induziert. Die primäre, mechanische Stabilität des Implantats wird im Zuge der Umbauvorgänge stetig reduziert, wohingegen die Sekundärstabilität, die biologische Verankerung des Implantats, in diesem Zeitraum immer mehr an Bedeutung gewinnt (Abb. 1). Pluripotente mesenchymale Stammzellen werden durch Chemotaxis in die Implantatregion geleitet und können dort unter optimalen Voraussetzungen zu knochenbildenden Osteoblasten reifen. Innerhalb von 6 Tagen lagern diese Osteoblasten bereits Osteoid auf der Implantatoberfläche ab und nach 2 Wochen erfolgt die Matrixkalzifizierung [2]. Abb. 1 Zeitlicher Ablauf der Osseointegration [2]. Belastungsfreie Einheilung Merke: Die lange Zeit dogmatisch eingehaltene belastungsfreie Einheilzeit der Implantate im Oberkiefer von 4–6 Monaten und im Unterkiefer von 3–4 Monaten entstand als rein empirische Überlegung und ist unter bestimmten Voraussetzungen mittlerweile teilweise auf 6 Wochen reduziert worden [3]. Diese Zeitspanne soll es dem Knochen ermöglichen, sich neu zu formieren, dem Implantat eine ausreichende funktionelle Sekundärstabilität zu verleihen und das Implantat während der Einheilphase vor Mikrobewegungen zu schützen, welche eine erfolgreiche Osseointegration gefährden können. Die Grundlage für die Forderung der ruhenden Einheilung ist die Feststellung gewesen, dass die verfrühte Belastung eines Implantats nicht in der gewünschten Osseointegration, sondern in einer bindegewebigen Einheilung resultierte [4, 5]. Nach der Bewältigung anfänglicher Probleme und der Einhaltung des Einheilzeitraums sind die heutigen Erfolgsaussichten für die konventionelle submuköse Einheilung durchschnittlich 98 %, und auch nach mehreren Jahren der Belastung liegen die Erfolgsraten für die Implantate bei über 95 % [6]. Merke: Auch heute gilt die submuköse, gedeckte Einheilung als die zuverlässigste Variante, um eine erfolgreiche Osseointegration zu erlangen. In den letzten Jahren wurde ein enormer Aufwand betrieben, neue operative Methoden und Implantate mit verbesserten Makro- und Mikrodesigns zu entwickeln. Auf diesem Wege soll die Vorhersehbarkeit und die Erfolgsrate für eine implantologische Behandlung weiter gesteigert werden. Nachteile. Wenn der Patient befragt wird, liegt dessen Hauptanliegen in der Verkürzung der Behandlungszeit, gefolgt von einer Kostenreduktion [7]. Bei der klassischen submukösen Einheilung sollte in den ersten Wochen keine Belastung durch Prothesen oder Zahnersatz auf die Implantate erfolgen, wodurch die Ästhetik und Phonetik der Patienten in starkem Maß eingeschränkt ist [8]. Zusätzlich wird ein 2. operativer Eingriff zur Freilegung der Implantate nötig. Mikrobewegungen und Osseointegration Die mittlerweile gut dokumentierte erfolgreiche Osseointegration von Implantaten mit verkürzter Einheilzeit selbst bei nicht verblockten Einzelzahnimplantaten [9] hat in jüngster Zeit die Vermutung aufkommen lassen, Bewegungen während der Einheilzeit seien bis zu einem bestimmten Bereich tolerabel oder eventuell sogar förderlich. So postuliert Brunski, der Bereich der tolerierten Mikrobewegungen betrage bis zu 100 µm [10]. Im Gegensatz dazu sehen Szmukler-Moncler und Mitautoren den Bereich zwischen 50 und 150 µm als kritische Schwelle der tolerierbaren Bewegungen an [11]. Oberhalb dieser Schwelle scheinen die Bewegungen, vor allem zu Beginn der Einheilung, den ankylotischen Verbund zwischen Knochen und Implantat so stark zu beeinflussen, dass es zu einer bindegewebigen Einheilung mit konsekutivem Verlust an Stabilität und damit des Implantats kommt. Das Ausmaß der tolerierten Bewegungen hängt auch von der Oberflächengestaltung und dem Design des Implantats ab [12], da hiermit initial die rein mechanische Stabilität positiv beeinflusst werden kann. Weiterhin kann das operative Trauma durch eine möglichst schonende Präparation reduziert werden. Aber auch hier gilt es, den „goldenen Mittelweg“ zu finden: Ein durch das Implantatdesign oder spezielle Implantatbett-Präparation verursachter zu starker Druck auf den umliegenden Knochen bedingt eine Nekrose mit folgender sekundärer Mobilisierung des Implantats. Die durch den physiologischen Osseointegrationsprozess bedingte minimale Implantatstabilität nach 3–4 Wochen kann dann noch verstärkt werden. Durch die weitere Knochenanlagerung an der Implantatoberfläche werden aber nach 6 Wochen bereits wieder sehr stabile Knochenverankerungen erreicht (Abb. 2). Abb. 2 a bis c Zahnfilmaufnahmen eines sofort belasteten, nicht verblockten Einzelzahnimplantats in Regio 36. a Zustand direkt nach Insertion. b Nach 6 Monaten. c Nach 12 Monaten. Merke: Die Implantatstabilität ist 3–4 Wochen nach der Insertion am niedrigsten und damit das Risiko eines Implantatverlusts in diesem Zeitraum am höchsten.

Neue Behandlungsprotokolle

Die stetig steigenden Erfolgsquoten der Implantate, verbunden mit dem Bestreben nach kürzeren und vor allem einfacheren Behandlungsmethoden, führten zu verschiedenen Modifikationen des originalen Brånemark-Protokolls, welches die bislang gültigen Einheilzeiten bis zur Belastung vorgab. Besonders die Methode der Sofortbelastung von Implantaten rückt immer mehr in den Vordergrund.

Merke: Neuere Studien mit einem Beobachtungszeitraum von bis zu 7 Jahren dokumentieren gleichwertige Erfolgsraten für Protokolle mit verkürzter Einheilzeit von sofortversorgten bzw. sofortbelasteten Implantaten [13, 14].

Die Konsensuskonferenzen der deutschen und europäischen wissenschaftlichen Fachgesellschaften kommen ebenfalls überein, dass die Sofortfunktion und Sofortbelastung von Implantaten ein zunehmend vorhersagbares Behandlungskonzept darstellt [[15]].

Sofortversorgung versus Sofortbelastung Die sofortige Versorgung eines Implantats beinhaltet dabei nicht immer auch sogleich eine funktionelle Belastung. Es ist möglich, eine provisorische Versorgung des/der Implantate durchzuführen, die zunächst funktionell weitgehend unbelastet ist. In der zahnärztlichen Implantologie wird von Sofortbelastung gesprochen, wenn Implantate zum Zeitpunkt ihrer Insertion mit einer Suprakonstruktion versorgt werden und diese Okklusionskontakte mit den Antagonisten aufweist. Bei der Sofortversorgung wird ebenfalls eine Suprakonstruktion im direkten Anschluss an die Implantation eingebracht. Okklusionskontakte zur Gegenzahnreihe bestehen jedoch nicht. Eine Studie von Degidi und Piattelli [14] ergab im direkten Vergleich von sofortbelasteten und sofortversorgten Implantaten eine höhere Implantat-Überlebensrate der sofortversorgten Implantate. Merke: Sofortversorgung bedeutet nicht unbedingt Sofortbelastung! Definitionen Sofortversorgung: Eingliederung von Zahnersatz ohne Okklusionskontakt am Tag der Implantation oder bis spätestens 48 Stunden nach der Implantation („geschützte Okklusion“). Sofortbelastung: Eingliederung von Zahnersatz mit Okklusionskontakt am Tag der Implantation oder bis spätestens 48 Stunden nach der Implantation. Verzögerte Sofortbelastung: Belastung zwischen der 2. und 6. Woche nach Implantation (z. B. nach Wundheilung).

Literatur

  • 1 Buser D. et al . Basic surgical principles with ITI implants.  Clin Oral Implants Res. 2000;  11 (Suppl. 1) 59-68
  • 2 Raghavendra S, Wood M C, Taylor T D. Early wound healing around endosseous implants: a review of the literature.  Int J Oral Maxillofac Implants. 2005;  20 425-431
  • 3 Calandriello R, Tomatis M, Rangert B. Immediate functional loading of Branemark System implants with enhanced initial stability: a prospective 1- to 2-year clinical and radiographic study.  Clin Implant Dent Relat Res. 2003;  5 (Suppl. 1) 10-20
  • 4 Szmukler-Moncler S. et al . Timing of loading and effect of micromotion on bone-dental implant interface: review of experimental literature.  J Biomed Mater Res. 1998;  43 192-203
  • 5 Albrektsson T. et al . Osseointegrated titanium implants. Requirements for ensuring a long-lasting, direct bone-to-implant anchorage in man.  Acta Orthop Scand. 1981;  52 155-170
  • 6 Attard N J, Zarb G A. Long-term treatment outcomes in edentulous patients with implant overdentures: the Toronto study.  Int J Prosthodont. 2004;  17 425-433
  • 7 Henry P J. et al . Prospective multicenter study on immediate rehabilitation of edentulous lower jaws according to the Branemark Novum protocol.  Clin Implant Dent Relat Res. 2003;  5 137-142
  • 8 Rungcharassaeng K, Kan J Y. Management of unfavorable implant placement: a clinical report.  J Prosthet Dent. 2000;  84 264-268
  • 9 Abboud M. et al . Immediate loading of single-tooth implants in the posterior region.  Int J Oral Maxillofac Implants. 2005;  20 61-68
  • 10 Brunski J B. Biomechanical factors affecting the bone-dental implant interface.  Clin Mater. 1992;  10 153-201
  • 11 Szmukler-Moncler S. et al . Considerations preliminary to the application of early and immediate loading protocols in dental implantology.  Clin Oral Implants Res. 2000;  11 12-25
  • 12 Steveling H, Roos J, Rasmusson L. Maxillary implants loaded at 3 months after insertion: results with Astra Tech implants after up to 5 years.  Clin Implant Dent Relat Res. 2001;  3 120-124
  • 13 Degidi M, Piattelli A. Comparative analysis study of 702 dental implants subjected to immediate functional loading and immediate nonfunctional loading to traditional healing periods with a follow-up of up to 24 months.  Int J Oral Maxillofac Implants. 2005;  20 99-107
  • 14 Degidi M, Perrotti V, Piattelli A. Immediately loaded titanium implants with a porous anodized surface with at least 36 months of follow-up.  Clin Implant Dent Relat Res. 2006;  8 169-177
  • 15 European Conference on Oral Implantology ( ECOI). 3. Internationaler Jahreskongress DGOI, European Meeting ICOI. 5–7 Oktober 2006, Baden-Baden/The first EAO consensus conference. 16–19 February 2006, Pfäffikon, Schweiz.  Clin Oral Implants Res. 2006;  17 (Suppl. 2 1)

Dr. Marcus Abboud

Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität
Poliklinik für Chirurgische ZMK

Welschnonnenstraße 17

D-53111 Bonn

Phone: 02 28/28 72 24 07

Email: marcus.abboud@gmail.com

    >