RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/a-2720-0945
Künstliche Intelligenz in der Osteologie
Autoren
Kein Zweifel, künstliche Intelligenz (KI) beeinflusst zunehmend unser Leben, vielfach kaum merklich, aber in manchen Bereichen auch disruptiv. Kaum jemand, der/die von den Möglichkeiten von ChatGPT nicht gehört hat und sehr viele, die das Tool auch schon ausprobiert haben, meist mit erstaunlich positiver Resonanz. Aber in der Osteologie? Spielt KI hier schon eine Rolle? Im klinischen Alltag eher noch nicht. Mit den Artikeln des vorliegenden Themenhefts versuchen wir deshalb, einige Schlaglichter auf realitätsnahe Anwendungsbeispiele zu werfen, um Möglichkeiten, die sich für die nahe Zukunft abzeichnen, zu verdeutlichen.
KI zur leitliniengerechten Osteoporoseversorgung: S. Kuhn und J. Knitza. ChatGPT glänzt damit, zu praktisch allen Fragen eine recht stichhaltige Antwort geben zu können, aber bei so breitem Potential kann auch Fehlerbehaftetes herauskommen, was im medizinischen Zusammenhang ein großes Problem darstellte. Die Autoren liefern eine Übersicht über Publikationen, die unterschiedliche Eignung von ChatGPT Varianten und alternativen KI Large Language Models (LLMs) im Hinblick auf leitlinienkonforme Information von Patienten zeigen. Neuere KI-Versionen schneiden bei Wissens- und Prüfungsfragen z.T. gut ab, beispielsweise besteht ChatGPT-4 einen Qualifikationstest der International Society for Clinical Densitometry. Eindrucksvoll ein Bericht, nach dem ChatGPT sich bei der Befundung realer Osteoporose-Fälle nicht hinter der Leistung von Fachärztinnen verstecken muss. Transparenz, Übertragbarkeit auf andere Populationen und Datenschutz stellen Herausforderungen dar, weshalb die kritische Überprüfung von LLM Ergebnissen durch Fachärzte weiterhin notwendig bleibt.
Bildgebung: N. Krekiehn et al. und S. Rühling et al. Die weitaus größte Anzahl der bisher von der FDA zugelassenen medizinischen KI-Produkte betrifft die Bildgebung. Einmal aus akademischer Sicht als Originalarbeit (N. Krekiehn et al.), einmal als Review aus Sicht eines Startup-Unternehmens (S. Rühling et al.), liefern zwei Artikel Beispiele, was KI in der Bildgebung leisten kann. Die Osteoporose-Therapielücke ist großteilig eine Diagnostiklücke, u.a. weil DXA nur einen Teil der Frakturgefährdeten erkennt, zum anderen, weil DXA-Geräte nicht so weit verbreitet sind (die zwar sehr geringe, aber rechtlich relevante Strahlenexposition und die Kosten spielen hier eine Rolle). Somit hofft man auf opportunistisches Screening, also die Identifikation von Frakturgefährdeten durch automatische Auswertung von CTs oder Röntgenaufnahmen, die zu anderen, nicht Osteoporose-bezogenen diagnostischen Zwecken aufgenommen wurden. Da das viele Millionen von Aufnahmen pro Jahr in Deutschland sind, könnten die Effekte enorm sein, so sie therapeutische Konsequenzen haben. S. Rühling et al. geben in ihrem Review einen Überblick, wie vielfältig und erfolgreich die Ansätze für das opportunistische Bestimmen der Lendenwirbelsäulen-Knochendichte und das Detektieren von Wirbelkörper-Frakturen sind. N. Krekiehn et al. zeigen auf, wie mächtige KI-Software, die als open source Produkt einsetzbar ist, auf die speziellen Belange der Osteoporose zugeschnitten werden kann. TotalSegmentator, zum Beispiel, erlaubt die automatische Detektion der äußeren Begrenzung von Organen, hier des Femurs. Zusammen mit eigenen KI-Modulen wurde ein Zuschnitt erreicht, der die automatisierte Auswertung auf die für Osteoporose interessierende Unterregion des proximalen Femurs begrenzt. Die Ergebnisse zeigen gute Übereinstimmung mit Goldstandard Bildverarbeitungsverfahren und sogar vielversprechende erste Frakturvorhersagedaten in einer opportunistischen Pilotanwendung des Verfahrens an Routine Krankenhaus CTs.
Genetische Diagnostik (U. Kornak). Die Vielzahl seltener osteologischer Erkrankungen steht seit einigen Jahren im Zentrum wissenschaftlicher Forschung. Wenngleich Genomanalysen die Osteoporose-Diagnostik und die Fraktur-Prognostik nicht wesentlich befördern, können durch sie Hinweise auf verborgene Erkrankungen gewonnen werden, die z.B. bisher nur vage als „Early-Onset“-Osteoporose klassifiziert wurden. Welche Programme, beispielsweise via Gesichtserkennung oder durch KI-gestützte Genvarianten-Suchverfahren klinisch hilfreiche Hinweise auf potentielle pathologische Ursachen liefern können, wird von U. Kornak in seiner Übersichtsarbeit dargelegt. KI hilft, aus einer Vielzahl von Syndromen die potentiell relevantesten zu identifizieren und erleichtert damit gerade auch dem Nichtspezialisten die sukzessive Eingrenzung potentieller Diagnosen.
Über die vorgestellten Themen hinaus zeichnen sich spannende weitere Entwicklungen für die Osteologie ab. Sturzrisiko spielt bekanntlich beim Frakturrisiko eine wesentliche Rolle, und hier sind aktuell eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten von „Wearables“ in der Erprobung – um z.B. Schwindelattacken zu detektieren und Sturzrisiko zu mindern, sei es durch Warnungen oder potentiell auch per Medikamentenfreisetzung. Oder zur Live-Detektion von Stürzen zur Alarmierung von Rettungspersonal. In neuartigen klinischen Studien könnten zwischen den Visiten in den Untersuchungszentren über Wearables oder Sensoren zuhause Daten im täglichen Leben kontinuierlich aufgenommen und so die Medikamentenwirkung viel feiner verfolgt werden. KI-assistierte Roboter könnten Operationstechniken verbessern, zum Beispiel über Digital Twins in der OP-Planung oder durch Integration (intraoperativer) Bildgebung oder Sensor-Analyse live während der Operation, ggf. auch als autonome Roboter. Digital Twins könnten auch in der Grundlagenforschung helfen, komplexe mechanistische Wirkungsketten zu identifizieren, indem KI aus komplexen Daten, bei deren Interpretation menschliche Intelligenz an ihre Grenzen stößt, Wirkungsketten extrahiert. Vielleicht fällt dann „endlich“ auch das so unverrückbar erscheinende Statement „Osteoporose ist eine Ausschlussdiagnostik“ zugunsten einer direkten, klar strukturierten diagnostischen Klärung?
Wenn die Möglichkeiten so vielfältig und überzeugend sind, warum ist noch nicht mehr im klinischen Alltag angekommen? Es ist eben ein langwieriger mehrjähriger Entwicklungs-, Validierungs- und Zertifizierungs-Prozess zu durchlaufen, bei dem das Ursprungstool auf die klinischen Belange zugeschnitten werden muss, damit es hilfreich ist und tatsächlich auch eingesetzt wird.
Alles nur positiv? In meiner persönlichen Einschätzung überwiegen für medizinische Anwendungen der KI in der Tat die positiven Aspekte bei Weitem. Was aber bestehen bleiben muss: eine gesunde Skepsis den Ergebnissen einer KI gegenüber. Das Training einer KI ist dem menschlichen Lernen nachempfunden: anhand von meist sehr umfangreichen Daten lernt die KI, wie ein Kind, Zusammenhänge zu erkennen, Sprache zu verstehen und Sinneseindrücke zu interpretieren. Und wie ein Kind kann die KI dabei irren – oder auch, obwohl unsicher, dennoch „trotzig“ halluzinieren. Blindes Vertrauen bleibt unangemessen, Vertrauen in die Urteilskraft der Black Box KI muss sich für jede Software einzeln schrittweise entwickeln. Aktuell wird KI deshalb zumeist als Zweitmeinung, als Assistenzsoftware eingesetzt. Aber bei steter Bewährung wird Vertrauen wachsen und dann ist die Grenze zur Primärmeinung fließend. KI wird mehr und mehr helfen: den Spezialisten, Krankheitszeichen aus anderen Krankheitsfeldern nicht zu übersehen, den Allgemeinmedizinern, den Überblick zu behalten, allen Ärzten, sich beim Patientenkontakt auf den Patienten zu konzentrieren, während die KI protokolliert und Befunde schreibt. Den Patienten wird sie ermöglichen, sich besser auf den Arztbesuch vorzubereiten und nach dem Arztgespräch, für den Fall, dass in der Aufregung Fragen vergessen wurden, diese noch dem Arzt-Avatar zu stellen. Hoffen wir, dass dadurch die vielbeklagte Therapielücke zum Wohle der Patienten deutlich verbessert wird. Spekulieren wir, dass KI-unterstützte Forschung vielleicht eines Tages sogar hilft, Therapien gegen Osteoporose zu entwickeln, die diese chronische Erkrankung heilen.
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
14. November 2025
© 2025. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
