Z Sex Forsch 2025; 38(03): 171-173
DOI: 10.1055/a-2664-4702
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Grundlagen des Sexocorporel: Ein Modell für die körperorientierte Sexualberatung und Sexuelle Bildung

Aaron Lahl
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Heinz-Jürgen Voß und Harald Stumpe, Hrsg. Grundlagen des Sexocorporel: Ein Modell für die körperorientierte Sexualberatung und Sexuelle Bildung. Gießen: Psychosozial 2024 (Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft). 298 Seiten, EUR 39,90

Die vom kanadischen Sexologen Jean-Yves Desjardins (1931–2011) entwickelte Sexocorporel-Therapie befindet sich seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum im Aufschwung. Mit Heinz-Jürgen Voß und Harald Stumpe haben nun zwei bedeutende Vertreter dieses Ansatzes ein Grundlagenkompendium herausgegeben. Die Herausgeber repräsentieren den Sexocorporel-Standort Merseburg: Voß leitet den körperfokussierten Masterstudiengang „Sexologie“, der 2014 an der Hochschule Merseburg (in Kooperation mit dem Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie Zürich) implementiert wurde und in dem auch Stumpe als emeritierter Professor lehrt. Der Sammelband enthält zwei Originalbeiträge (von 2005 und 2011) der Arbeitsgruppe um Desjardins, eine Zusammenstellung von Auszügen aus Interviews mit selbigem sowie diverse Beiträge zur aktuellen Anwendung von Sexocorporel in den Feldern der Sexualtherapie, der Sexualpädagogik und der sexuellen Bildungsarbeit.

Zunächst eine Einführung: Der Sexocorporel-Ansatz postuliert ein Grundmodell der Sexualität, das aus vier Komponenten besteht: physiologischen (u. a. sexuelle Erregungsfunktion und -modi), sexodynamischen (u. a. Gefühl der Geschlechtszugehörigkeit, sexuelle Fantasien), kognitiven (u. a. Sexualkenntnisse, moralische Werte) und Beziehungskomponenten (u. a. Liebesgefühle, Verführungsfähigkeiten). Der Theoretisierung der physiologischen Komponente gilt dabei das größte Augenmerk. Desjardins behauptet mit dem genital-sexuellen „Erregungsreflex“ die biologische Basis der Sexualität sowie vier grundlegende Modi seiner Aktivierung entdeckt zu haben. Im archaischen Erregungsmodus, der schon bei Kleinkindern beobachtbar sei, erfolge eine Stimulation der propriozeptiven Rezeptoren (z. B. durch Anspannungs- oder Schaukelbewegungen). Im mechanischen Modus werde eine rasche, oberflächliche Stimulation des Penis oder der Klitoris vorgenommen mit dem Effekt der raschen Orgasmusherbeiführung ohne weitere Ausbreitung der Erregung in andere Körperzonen. Im ondulierenden Modus verteile sich die Erregung im Körper, allerdings misslinge eine Kanalisierung in Richtung Orgasmus. Im wellenförmigen Modus schließlich gelinge die orgastische Entladung unter Einbindung des ganzen Körpers, wobei vor allem die „doppelte Reflexschaukel“, d. h. korrespondierende Kippbewegungen von Becken und Schultern, für eine gelingende Ausbreitung und Abfuhr der Erregung sorge[ 1 ].

Obwohl das Grundmodell des Sexocorporel als ganzheitliches auftritt, privilegiert es die körperlich-physiologischen Aspekte. Systematisch ausgeklammert wird dabei der Bedeutungsaspekt von Sexualität. Das zeigt sich etwa in einer äußerst knappen Theoretisierung von sexuellen Fantasien (S. 55, 93f.). Desjardins und sein Team verstehen sexuelle Fantasien nicht als Verarbeitung von lebensgeschichtlichen Erfahrungen, geschweige denn dass sie, wie die Psychoanalyse aber teilweise auch die sexuelle Skript-Theorie, eine latente Bedeutung in Fantasien annehmen. Sexuelle Fantasien werden im Sexocorporel entweder als bedeutungslose Erregungsquelle oder als Ausdruck der Körperstellung beim Sex oder in der Masturbation begriffen, was dann in der therapeutischen Applikation aufgegriffen wird.

Die Schwerpunktsetzung auf die körperlichen Aspekte der Sexualität zeigt sich auch in den ätiologischen Annahmen und therapeutischen Interventionen in Hinblick auf sexuelle Probleme. Die misslingende Handhabung des genitalen Erregungsreflexes firmiert dabei als „direkte“ Ursache für sexuelle Störungen. Alle weiteren Faktoren können nur indirekte Wirkkraft für sich beanspruchen: „Wenn beispielsweise eine sexuelle Schwierigkeit auf eine Beziehungsstörung, schlechte Kommunikation zwischen den Partnern, negative elterliche Einflüsse, schwierige sexuelle Erfahrungen in der Kindheit, unangemessene sexuelle Kontakte usw. zurückgeführt wird, ist das Hauptproblem nur selten erkannt worden!“ (S. 64) Dieses liege eben primär in der falsch erlernten Handhabung des Erregungsreflexes, vor allem in den defizienten Erregungsmodi: Wer nur mechanisch masturbiert, wird auch beim Sex zu schnell kommen, wer nur im ondulierenden Modus verbleibt, wird Orgasmusschwierigkeiten haben usw. Entsprechend liegt der therapeutische Fokus auf dem Erlernen der besseren Techniken, d. h. vor allem des wellenförmigen Erregungsmodus samt der legendären Doppelschaukel, zuerst im Erprobungsfeld der Masturbation, dann beim Sex mit anderen Personen.

Soweit die sexualwissenschaftlich diskutablen Aspekte des Sexocorporel-Ansatzes. Desjardins und seine Kolleg*innen bleiben nun aber nicht beim Aufstellen körperbezogener Theoreme und Handlungsempfehlungen stehen, sondern spannen diese in ein stark normatives Programm ein. Wer die beiden Originalarbeiten liest, wird rasch feststellen, wie biologistisch, binär und heteronormativ Sexocorporel in seiner durch Desjardins und sein Team propagierten Form ist. In seiner klinischen Anwendung läuft Sexocorporel bei ihnen auf nicht weniger als eine Konversionstherapie zur vermeintlichen Heilung von Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit hinaus.

Zentral für die biologistisch-normative Ausrichtung von Sexocorporel ist die Bezugnahme auf die Archetypen-Lehre: „Sexuelle Archetypen sind programmierte Elemente (wahrscheinlich auf der Ebene des limbischen Gehirns), instinktiv, mit dem Überleben der Spezies verbunden, unabhängig von der Kultur, ihr vorausgehend, was dazu führt, dass die Männer mit ihrem Penis in die weiblichen Höhlen eindringen und die Frauen den Penis in ihrer vaginalen Höhle und den Fötus in ihrer uterinen Höhle aufnehmen.“ (S. 52)[ 2 ] Als sexuell gesund gilt dabei, wer seinen sexuellen Archetyp integriert hat, das heißt, wer seine anatomische Morphologie annimmt und ihr Gegenstück im anderen Geschlecht sucht: „Im Hinblick auf die sexuelle Gesundheit wird eine Person, die ihre Genitalien durch die Wahrnehmung der Orientierungspunkte der sexuellen Erregung gut kennt, im Allgemeinen an dem ergänzenden Unterschied auf dieser Ebene interessiert sein. Ein Mann zum Beispiel, der seine phallische Intrusivität erotisiert hat, sucht nach Höhlen, in die er eindringen kann. Ebenso wird eine Frau, die ihre vaginale Höhle, ihre vaginale Rezeptivität, verankert und erotisiert hat, das Geschlecht eines in sie eindringenden Mannes begehren.“ (S. 56)

Abgeleitet aus biologischen Prämissen erklären die Begründer*innen des Sexocorporel also den peno-vaginalen Koitus zur physiologisch rationalen und gesunden Sexualität. Zu seiner richtigen Ausübung wird dabei der wellenförmige Erregungsmodus empfohlen. Der von Sigmund Freud lancierte Mythos der reifen Vaginalsexualität (gegenüber der unreifen Klitorissexualität), den die Psychoanalyse weitgehend hinter sich gelassen hat, erfährt im Sexocorporel-Ansatz eine zweite Blüte. Denn eine Frau, die nur im mechanischen Modus die Klitoris stimuliert, „wird Schwierigkeiten haben, durch vaginale Empfindungen erregt zu werden, und wird kaum in der Lage sein, durch Penetration zur orgastischen Entladung zu kommen (außer bei gleichzeitiger Stimulation ihrer Klitoris)“ (S. 83f.). Und das wiederum, der genitale Penetrationsorgasmus, ist offensichtlich der ideale Fluchtpunkt und die Basis sexueller Gesundheit nach Desjardins und seinen Kolleg*innen.

Dass diese normative Genitalsextheorie klinisch zu einer Form der Konversionstherapie überleitet, wird an zwei Fallvignetten deutlich. Im einen Fall meldete sich ein 47-jähriger (mit einer Frau) verheirateter Mann und Familienvater, der seit drei Jahren sexuelle Fantasien von Männern hat und seit zwei Jahren Kontakt mit homosexuellen Männern pflegt und mit diesen schläft. Ihm wird wegen seiner passiv-analen Fantasien eine „Umkehrung seines sexuellen Archetyps“ (S. 112) attestiert, die wiederum auf einen archaisch-mechanischen Erregungsmodus zurückgeführt wird. Schließlich werden beim archaischen Erregungsmodus auch „anale Empfindungen geweckt“ (S. 114.). Entsprechend bestanden die therapeutischen Bemühungen darin, die Analregion zu enterotisieren (S. 115) und den Klienten anzuweisen, im Stehen oder kniend zu masturbieren, „da die sitzende Position am ‚antiphallischsten‘ ist“ (S. 116). Die Autor*innen behaupten, mit diesen und weiteren Methoden dem Klienten „immer häufiger Bilder von Penetration mit einer Frau in den Sinn“ (S. 115) gebracht und damit auch die heterosexuelle Ehe gerettet zu haben. Dass der Klient auch einfach einen späten Coming-Out-Konflikt haben könnte, wird in keiner Zeile erwähnt. Das ist wiederum auch nicht verwunderlich, denn solche Konflikte zwischen früh-erworbenen Begehrensweisen und äußeren Normen überschreiten bereits das konzeptuelle Modell des Sexocorporel.

Im zweiten Fall meldete sich eine Klientin mit der Sorge, sie könne transsexuell oder lesbisch sein. Die Ursache dieses Problems wird wiederum auf eine falsche Erregungsweise zurückgeführt: „Da sie einen sexuellen Erregungsmodus hat, der der männlichen Koitusbewegung ähnelt (Kippen des Beckens mit Vorwärtsdruck), mit dem Gefühl einer (vollen) Kugel zwischen den Beinen, hat dies dazu geführt, dass ihre Selbstwahrnehmung beeinträchtigt ist. Durch den Druck und die Bewegungen fühlte sie sich beim Sex wie ein Mann, der eindringt, und nicht wie eine Frau, in die eingedrungen wird.“ (S. 107) Als therapeutische „Ziele“ werden entsprechend formuliert: „sich voll und ganz in ihrem biologischen Geschlecht, in ihrer Weiblichkeit fühlen“ und „koitales sexuelles Begehren nach ihrem Mann entwickeln“ (S. 108). Das Kapitel zur Umkonditionierung ihrer Begehrensweise qua Körpertechniken trägt den allessagenden Titel „Einweihungen in Fantasien über sexuelle Empfänglichkeit“ (S. 112).

Diese Fallgeschichten, die an die dunkelsten Kapitel der konversionstherapeutischen Bemühungen in Verhaltenstherapie und Psychoanalyse vor etwa 50 Jahren erinnern, wurden im französischen Original 2011 publiziert. Wenn etwas den Titel „archaisch“ verdient, dann sind es die heterogenitalen Rückwärtsutopien von Desjardins und seinen Kolleg*innen. Das muss umso mehr unterstrichen werden, als die Herausgeber es versäumen, das angemessen zu benennen, geschweige denn durchzuarbeiten. Weder in den ausführlichen Einleitungstexten noch in den anschließenden Beiträgen zu zeitgenössischen Anwendungsweisen des Sexocorporel findet sich ein kritisches Wort. Stattdessen wird in gänzlicher Verleugnung der normativen Vorgeschichte häufig der progressive Charakter, ja die „nicht pathologisierende Sichtweise“ (S. 145) im Sexocorporel gepriesen und Desjardins als „charismatische und humanistische Persönlichkeit“ (S. 220) hagiographiert. Ein leiser Einspruch, der nicht ohne Warnung davor auskommt, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“ (S. 297), findet sich erst im Nachwort, auf den letzten zweieinhalb Seiten des Buches. Hier konzedieren die Herausgeber kurz die normativen Aspekte von Desjardins Theorie und wundern sich, dass er keine feministische oder poststrukturalistische Literatur rezipiert hat, wofür sie vor allem seine christliche Prägung verantwortlich machen; Desjardins war nämlich Priester, bevor er Sexologe wurde. Eine kritische Reflexion auf die belastete Vorgeschichte des eigenen Fachs und ihre möglichen Nachwirkungen bis in die Gegenwart – wie man sie von einem Buch, das „Grundlagen“ liefern möchte, berechtigterweise erwarten könnte – sieht anders aus.[ 3 ]

Nun ist es nicht so, dass alle Beitragenden des Grundlagenkompendiums Konversionstherapie befürworten oder gar betreiben. Die meisten von ihnen schlagen tatsächlich eine andere Richtung ein. In einem Beitrag (von Kneubühler) wird die Behandlung eines homosexuellen Mannes mit Fokus auf seine sexuelle Funktionsstörung (nicht seine Orientierung) geschildert (S. 146ff.) und ein anderer, ausgewogener Beitrag zum Umgang mit Transidentität (von Weidinger und Kostenwein) plädiert für eine respektvolle und wertneutrale Haltung gegenüber transidenten Klient*innen. Viele der Beiträge vermischen den Sexocorporel-Ansatz zudem mit anderen therapeutischen Richtungen und Paradigmen wie dem Embodiment-Ansatz, der humanistischen Gesprächspsychotherapie oder auch psychodynamischem Denken (Beiträge von Sztenc, Kneubühler und Bischoff). Als besonders fruchtbar und feinfühlig kann dabei der Beitrag von Schütz zur Behandlung von Menschen mit (vorwiegend kognitiven) Einschränkungen hervorgehoben werden.

Doch gerade weil diese neuen Verwendungsweisen unvermittelt neben äußerst rückständigen Therapievorschlägen und einer ungebrochenen Heldenverehrung Desjardins stehen, hinterlässt der Band einen schiefen, unaufgeräumten Eindruck. Bezeichnend dafür ist auch der in den letzten Zeilen angedeutete und auffallend unbeholfene Versuch, eine Brücke zur kritischen Sexualwissenschaft im Sinne Siguschs zu schlagen. Die Herausgeber gestehen dabei ein, es bestünden noch „Übersetzungs- und Anschlusserfordernisse zu den Perspektiven einer ‚kritischen Sexualwissenschaft‘“ (S. 297). Die Rede vom „Anschluss“ zeugt jedoch schon von einem grundlegenden Missverständnis. Kritische Sexualwissenschaft ist kein Satz an Theorien, mit denen man andere Theorien irgendwie „verbinden“ kann, sondern der Anspruch, Sexualwissenschaft in Hinblick auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und das eigene (wissenschaftliche oder therapeutische) Agieren darin reflexiv zu durchdringen. Das würde freilich mehr verlangen, als die offensichtlich kruden Aspekte der Arbeiten Desjardins (namentlich die Archetypen-Theorie) aus dem Sexocorporel-Ansatz auszurangieren. Vielmehr wäre überhaupt zunächst ein kritischer Begriff von Sexualtherapie und ihrer gesellschaftlichen Funktion zu entwickeln. In Bezug auf Sexocorporel stellte sich dann konkret die Frage, ob dieser Ansatz selbst dann, wenn man ihn von seinen heteronormativen Schlacken befreit, aktuelleren gesellschaftlichen Imperativen und Dispositiven in die Karten spielt. Die Annahme, die eigene Sexualität durch Lernen von konditionierenden Körperpraxen flexibel und willentlich gestalten zu können, scheint jedenfalls hervorragend zu neoliberalen Anrufungen zur sexuellen Selbstoptimierung zu passen.[ 4 ] Von solchen Reflexionen ist das Grundlagenwerk von Voß und Stumpe leider sehr weit entfernt.

Aaron Lahl (Berlin)



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
05. September 2025

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