Suchttherapie 2023; 24(02): 82-91
DOI: 10.1055/a-1968-5655
Originalarbeit

Nutzen und zukünftige Relevanz der Corona-bedingt befristeten Änderungen in der Substitution in Deutschland

Ergebnisse einer qualitativen Befragung substituierender Ärzt:innenBenefits and Future Relevance of the Corona-Related Temporary Changes in OST in GermanyResults of a Qualitative Survey of Substituting Physicians
Babette Müllerschön
1   Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen
2   Institut für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences
,
Heino Stöver
2   Institut für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences
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Zusammenfassung

Ziel der Studie Die COVID-19-Pandmie hat die Substitutionsbehandlung vor große Herausforderungen gestellt. An der oft als restriktiv angesehenen Rechtsgrundlage (BtM-VV) wurden befristete Änderungen vorgenommen, um Behandler:innen mehr Spielraum bei der Gestaltung der Therapien zu gewährleisten. Weitreichende Flexibilisierungen wurden in den Bereichen Take-Home-Verschreibungen, konsiliarische Behandlung und Delegation vorgenommen. Zusätzlich wurden neue Vergütungsmöglichkeiten im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) geschaffen. Durch leitfadengestützte Interviews mit substituierenden Ärzt:innen wurde eine Evaluation der befristeten BtM-VV- und EBM- Änderungen vorgenommen.

Methodik Im Jahr 2021 wurden 16 qualitative Interviews mit substituierenden Ärzt:innen aus zehn verschiedenen Bundesländern in Deutschland geführt. Die Interviewten wurden zu ihren Erfahrungen mit den Corona-bedingt befristeten BtM-VV- und EBM-Änderungen befragt. Im Fokus stand dabei, ob die temporären Flexibilitäten dauerhaft in die post-pandemische Praxis übernommen werden sollten. Der Interviewleitfaden enthielt zusätzlich Fragen zu strukturellen Barrieren, Nachwuchsmangel und Stigmatisierung.

Ergebnisse Zur Kontaktreduzierung verlängerte die Mehrheit der Ärzt:innen Take-Home-Rezepte. In Folge machte nur eine befragte Person ausschließlich negative Erfahrungen. Insgesamt berichteten die Ärzt:innen über keine und/oder positive Veränderungen im Therapieverlauf. Behandler:innen nutzten die meisten der befristeten Rechts- und Vergütungsänderungen in der Behandlungsgestaltung. Sie sprachen sich überwiegend für eine Übernahme der befristeten Regelungen in den post-pandemisch Regelbetrieb aus. Kontrovers wurden die Änderungen bezüglich der Aufhebung der Kapazitätsgrenze bei der Konsiliarregelung und der erweiterten Delegation diskutiert.

Schlussfolgerung Die Ergebnisse sprechen für die Übernahme der befristeten BtM-VV- und EBM-Änderungen in den post-pandemischen Regelbetrieb. Die Flexibilisierungen erleichtern die Anpassung der Therapie an individuelle Umstände der Behandler:innen und Patient:innen. Dies könnte dazu beitragen, die derzeitigen Versorgungsengpässe zu entschärfen und mehr Menschen mit Opioid-Abhängigkeit eine qualitativ hochwertige Substitutionstherapie anbieten zu können. Eine Untersuchung und Beseitigung struktureller Barrieren darf bei der Ein- bzw. Fortführung erweiterter Handlungsspielräume nicht vergessen werden. Da gesetzliche Flexibilisierungen zwangsläufig mehr Verantwortung auf die einzelnen Ärzt:innen übertragen, sollte eine verstärkte Unterstützung durch Schulungen und Vernetzung angeboten werden.

Abstract

Purpose The COVID-19 pandemic has posed major challenges to OST (opioid substitution treatment). Therefor the legal basis (BtM-VV), which is often regarded as restrictive, was temporarily amended to give treatment providers more options in adapting therapies to the specific situation. Extensive flexibility was introduced in the areas of take-home prescriptions, consultative treatment and delegation. Additionally, new reimbursement options were created (EBM). An evaluation of the temporary changes of the legal and remuneration regulations was carried out through guided interviews with physicians providing OST.

Methods In 2021, 16 qualitative interviews were conducted with OST providing physicians from ten different federal states of Germany. Interviewees were asked about their experiences regarding Corona-related temporary legal and remuneration changes. Questions focused on whether the temporary flexibilities should be adopted permanently in post-pandemic regular practice. The interview guide also included questions on structural barriers, lack of junior staff, and stigmatization.

Results Most physicians extended take-home prescriptions. Subsequently only one person experienced purely negative consequences. Overall, interviewees reported either no and/or positive changes in the course of the therapy. The physicians used most of the temporary legal and remuneration flexibilities to adapt the treatment design. Predominantly interviewees have been in favour of adopting the temporary regulations in their post-pandemic practice. Controversial opinions were found on legal changes regarding the removal of the capacity limit in consultative regulation and expanded delegation.

Conclusion The results support the adoption of the temporary legal and remuneration changes in post-pandemic practice. Changes facilitate the adaptation of therapy to individual circumstances of practitioners and patients. This might help to address current bottlenecks in the supply and to offer high-quality OST to more people with opioid use disorder. An identification and elimination of structural barriers should not be forgotten in the process of implementation. As legal flexibilization inevitably transfers more responsibility to the individual physician increased support via training and networking should be offered.



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Article published online:
05 December 2022

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