Z Orthop Unfall 2022; 160(04): 367-368
DOI: 10.1055/a-1867-0091
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

Interview mit Prof. Dr. med. Henning Madry

Direktor des Lehrstuhls für Experimentelle Orthopädie und Arthroseforschung, Institut für Experimentelle Orthopädie und Arthroseforschung, Universität des Saarlandes, Homburg/Saar, Deutschland. Klinik für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg/Saar, Deutschland
Frank Lichert
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Abb. 1 Prof. Dr. med. Henning Madry. Quelle: DGOOC [rerif]

Welches neue medizinische Verfahren war Ihrer Meinung nach in der Orthopädie und Unfallchirurgie in den letzten 20 Jahren von besonderer Bedeutung?

In meinem Bereich war dies mit Sicherheit die autologe Chondrozytentransplantation. Dies ist eine bahnbrechende Methode zur Behandlung von großflächigen Knorpeldefekten, die auf fortschrittlichsten Labortechniken beruht. Die Technik wurde bereits im Jahr 1971 inauguriert und in den 1980er-Jahren in den USA im Tiermodell weiterentwickelt. In Deutschland kommt die Methode etwa seit den späten 1990er-Jahren zum Einsatz.

Wie funktioniert diese Methode genau?

Bei der Patientin oder dem Patienten wird in dem betreffenden Gelenk, meistens im Kniegelenk, eine Biopsie durchgeführt und gesundes Knorpelmaterial aus wenig belasteten Bereichen entnommen. Im Labor erfolgen eine Aufbereitung und Vermehrung der Zellen. Die Zellen können dann in einer 2. Operation gezielt in den umschriebenen Knorpeldefekt eingebracht werden. Hier existieren prinzipiell 2 Methoden: Zum einen werden die entnommenen Zellen in ein Kollagenschwämmchen eingesät und heften sich dort an. Zum anderen finden Hydrogele Verwendung, mit deren Hilfe die Zellen dann in den defekten Gelenkbereich eingespritzt werden.

Welche Patientinnen und Patienten kommen für diese Technologie infrage und welche nicht?

Das Verfahren funktioniert leider nicht bei Patientinnen und Patienten, die an einer Arthrose leiden. Der Einsatz ist hier sogar verboten, da die Arthrose eine Erkrankung des gesamten Gelenks ist. Betroffenen mit einem derartigen großflächigen Knorpelabrieb, bei denen häufig auch noch weitere ungünstige Faktoren hinzukommen, können wir mit der autologen Chondrozytentransplantation leider nicht helfen. Wenn Sie sich hingegen einen jungen Fußballer vorstellen, der verletzungsbedingt ein großes Stück Knorpel eingebüßt hat, welches nicht ohne Weiteres wieder eingesetzt werden kann, so ist diese Technik aber konkurrenzlos. Mit dieser Methode erreichen wir in vielen Fällen eine vollständige Heilung des Gelenks.

Welche Behandlungsoptionen stehen aktuell für Patientinnen und Patienten mit Arthrose zur Verfügung? Woran wird derzeit geforscht?

Es ist wünschenswert, dass insbesondere die großen Pharmafirmen weiterhin nach strukturmodifizierenden Pharmaka suchen. Also nach Wirkstoffen, die den Knorpelabrieb stoppen oder sogar rückgängig machen können. Auf diesem Gebiet gibt es bereits gute Ansätze. Es hat sich gezeigt, dass bestimmte Wachstumsfaktoren, die in das Gelenk gespritzt werden, in der Lage sind, die Struktur des Knorpels wieder leicht ins Positive zu modifizieren. Obwohl in geringem Umfang Knorpel wieder aufgebaut wird, besteht allerdings das Problem, dass die Patientin oder der Patient davon wenig bis gar nichts spürt. Diese interessiert natürlich weniger ein irgendwie gearteter Knorpelaufbau im Gelenk, sondern umso mehr, schmerzfrei zu werden und die Gelenkfunktion zurückzuerhalten. Das macht die Arbeit für die Klinikerin oder den Kliniker nicht eben leichter.

Bei der Verwendung von derartigen knorpelaufbauenden Substanzen sollten also in jedem Fall noch Knorpelzellen vorhanden sein?

Genau. Stellen Sie sich das so vor. Sie sind im Winterurlaub im schönen Allgäu und die Schneedecke hat eine Stärke von 1 Meter. Dann kommt die Sonne und der Schnee schmilzt, irgendwann ist nur noch die „grüne Wiese“ da, also der Knochen. Um die Situation zu verbessern, müsste es quasi wieder schneien, d. h. der Knorpel müsste wieder wachsen. Damit die Methode funktioniert, muss noch etwas Knorpel vorhanden sein, der wieder aufgebaut werden kann.

Das bedeutet doch, arthrotische Prozesse sollten unbedingt früh erkannt werden?

Das ist ein ganz großes Problem. Eine Arthrose bleibt häufig lange Zeit asymptomatisch. Irgendwann verspürt die Patientin oder der Patient dann doch Schmerzen im Knie, sie oder er geht zum Arzt und erfährt, dass bereits eine deutliche Arthrose vorliegt. Im Grunde müssten die Patientinnen und Patienten ab einem gewissen Alter im Abstand von etwa 5 Jahren untersucht werden, dies ist aber völlig wirklichkeitsfern. Hier könnten spezifische Biomarker eine große Hilfe sein – diese existieren aber leider noch nicht. Jüngste Forschungsergebnisse aus der Klinik unterstreichen indes den unverändert hohen Stellenwert der konventionellen Arthrosetherapie. Dies möchte aber niemand gerne hören, weil es altmodisch und langweilig klingt. Bewegung, Koordination, Muskelkräftigung, Wassergymnastik, Hilfsmittel usw. haben nach wie vor ihre Berechtigung, wenn es darum geht, eine Arthrose zu behandeln. Parallel halte ich es jedoch für wichtig, dass neue wissenschaftliche Ansätze, wie die bereits eben erwähnten strukturmodifizierenden Faktoren, Wachstumsfaktoren, Transkriptionsfaktoren usw., weiterverfolgt werden. Ziel muss es aber auch sein, dass die betroffenen Patientinnen und Patienten eine klinische Verbesserung spüren.

Sie verfolgen unter anderem einen gentechnischen Ansatz, in dem Gene in kranke Knorpelzellen eingeschleust werden. Was ist das Ziel?

Die Idee dahinter ist, grob gesagt, die Knorpelzelle durch einen Gentransfer in die Lage zu versetzen, die Dinge, die sie tut, besser tun zu können. Die Zelle wird dabei nicht umprogrammiert. Wir schleusen Gene ein, die beispielsweise für Wachstumsfaktoren kodieren. Dazu benutzen wir klassische Genvektoren, um genau zu sein, adenoassoziierte virale Vektoren. Hierbei handelt es sich um sehr potente und vor allem sehr sichere Genvektoren. Zumindest bei Knorpelzellen hat sich diese Methode als deutlich effektiver erwiesen als beispielsweise die mRNA-Technik. Der Vorteil des gentechnischen Ansatzes gegenüber einem Einspritzen von Wachstumsfaktoren liegt darin, dass die Bioverfügbarkeit der Wirkstoffe über Wochen oder sogar Monate aufrechterhalten werden kann. Das Protein wird so ständig nachproduziert.

Befinden Sie sich mit dieser Technologie noch im Forschungsstadium oder kommt diese bereits bei Patientinnen und Patienten zum Einsatz?

An dieser Technologie wird immer noch geforscht. Allerdings finden aktuell weltweit mehrere klinische Studien statt, die solche Methoden zum Gentransfer bei Arthrosepatientinnen und -patienten testen.

Sie sind Mitglied des sogenannten „Knorpelnetzes“. Was ist das Ziel dieses Netzwerkes und wer ist noch beteiligt?

Ich bin Gründungsmitglied dieser Initiative. Wir sind hier im Saarland und befinden uns geografisch am Rande Deutschlands. International gesehen stehen wir allerdings im Herzen Europas. Der Hintergrund ist folgender: Meine Universität, die Universität des Saarlandes, hat sich vor ca. 15 Jahren mit Universitäten im benachbarten europäischen Ausland zusammengetan. Ziel war es, die „Universität in der Großregion“ zu bilden. Es handelt sich hierbei um einen Universitätenverbund, an dem beispielsweise die Universitäten von Homburg, Trier, Luxemburg, Lüttich, Nancy und Metz beteiligt sind. Wir haben uns dann dazu entschlossen, in diesem Rahmen das sogenannte „Knorpelnetz“ ins Leben zu rufen. Beteiligt sind alle Akteure aus dieser Region, die sich mit dem Thema Knorpel beschäftigen, also Ärztinnen und Ärzte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Ingenieurinnen und Ingenieure. Innerhalb dieses Verbundes kommen wir regelmäßig zusammen. Das Netzwerk ist sowohl wissenschaftsorientiert, es nehmen aber auch Klinikerinnen und Kliniker teil. Ein weiteres Ziel ist der Studierendenaustausch, also die Nachwuchsförderung. Wir laden beispielsweise Studentinnen und Studenten ein, im Rahmen des „Knorpelnetzes“ Vorträge zu halten. Diese befinden sich dann plötzlich in einer ihnen völlig fremden Welt. Studierende aus Deutschland lernen auf diese Weise beispielsweise Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Frankreich kennen und so auch die klinische und Forschungslandschaft in diesem Land. Innerhalb des Netzwerkes kommt es auch immer wieder zur Vermittlung von Forscherinnen und Forschern, die dann bei uns am Institut ein Praktikum absolvieren. Das ist praktisch grenzüberschreitendes akademisches Leben. Gleichzeitig entsenden wir auch unsere wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an andere Universitäten im europäischen Ausland.

Innerhalb des „Knorpelnetzes“ werden sicher auch Forschungsprojekte geplant und durchgeführt?

Dies sind überwiegend bi- und trinationale Projekte. Für die großen Projekte auf europäischer Ebene, an denen wir auch beteiligt sind, gibt es Vorgaben, die das Ziel haben, möglichst ganz Europa einzubinden. Innerhalb des „Knorpelnetzes“ streben wir eher kleine Projekte an, mit wenigen, aber ausgesuchten Playern. Diese wissenschaftlich oftmals sehr starken Projekte laufen beispielsweise unter der Überschrift „Homburg-Nancy“, „Homburg-Luxemburg“ oder auch „Homburg-Lüttich“. Hieraus entstehen häufig viel beachtete Publikationen, wie dieses Jahr in „Science Translational Medicine“. Innerhalb dieser Initiativen ist übrigens auch meine Frau Magali Cucchiarini sehr eng eingebunden, die von Hause aus Naturwissenschaftlerin ist.

Wie schätzen Sie den Stellenwert der deutschen Forschung im Bereich Orthopädie im internationalen Vergleich ein?

Natürlich existieren Institute, neben unserem, die auch weltweit führend sind. Generell ist es so, dass die orthopädische Forschung in Deutschland, insbesondere durch die Schaffung von eigenständigen Lehrstühlen, in den letzten 20 Jahren extrem gewonnen hat. Nichtsdestotrotz würde ich es natürlich begrüßen, wenn die Förderung noch weiter intensiviert werden würde. Meiner Frau und mir wurde beispielsweise die Ehre zuteil, in den Vorstand der „Osteoarthritis Research Society International“ (OARSI) gewählt zu werden. Die OARSI ist die führende internationale Organisation für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie medizinisches Fachpersonal mit Schwerpunkt auf Prävention und Behandlung der Arthrose. Meine Frau hat im Jahr 2022 das grundlagenwissenschaftliche Programm des Weltkongresses der „International Cartilage Regeneration & Joint Preservation Society“ (ICRS) in Berlin aufgestellt. Hier kommt die absolute Weltspitze von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen, die zum Thema Knorpel forschen, aber vor allem auch Knorpelchirurgen von internationalem Rang. Das ist schon eine Ehre, und es zeigt auch, dass unsere wissenschaftliche Arbeit in Deutschland einen hohen internationalen Stellenwert genießt und von der Wissenschaftscommunity wertgeschätzt wird.

Die Fragen stellte Dr. Frank Lichert.



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Article published online:
03 August 2022

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