Gesundheitswesen 2022; 84(07): 561
DOI: 10.1055/a-1849-0116
Panorama
Buchrezension

Heile und Herrsche!

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Die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens in Richtung Privatisierung und Wettbewerb betrachtet der Frankfurter Chirurg, Buchautor und Kolumnist Bernd Hontschik als Tragödie. Es ist die Frage, ob das nicht zu dramatisierend ist. Die sieben Kapitel tragen eine Fülle von Indizien dafür zusammen, die in der Frage münden, wer denn nun die Schuld für diese Tragödie trägt. Es dreht sich alles ums Geld, um die Bezahlsysteme, so die schlichte Analyse. War es ein zentraler Schritt, dass in der sozialen Krankenversicherung der unmittelbare Geldfluss zwischen Kranken und Behandlern keine Bedeutung mehr hatte – mit der beachtlichen Ausnahme der PKV – so taucht die Höhe der Vergütung im Gewand von Pay for Performance in der Moderne als Steuerungsinstrument auf. Hontschik zeigt auf, dass die Grundannahmen für diesen Ansatz nicht gegeben sind, dass aber ein großes Missbrauchspotenzial besteht, das Angebot von Leistungen unter dem Gewinnaspekt neu zu sortieren. Ein für Laien auf den ersten Blick sympathischer Ansatz wird damit zum „toxischen Fremdkörper“. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, wie auch die dem Solidaritätsprinzip verpflichteten Krankenkassen schrittweise von der Idee „günstiger Risiken“ infiltriert wurden. Die dramatischsten Veränderungen verortet der Autor in der Krankenhauslandschaft: Der schlichte Gedanke der Privatisierung gewinnt Überhand und ersetzt sinnvolle politische Reformen. Viel zu lange wird das nahezu flächenhaft wirkende DRG-System toleriert, ehe erkannt wird, dass Deutschland mit seinem Perfektionsbestreben bei der Einführung dieses Systems das Gebot angemessener Qualität je nach Versorgungslevel aus dem Auge verloren hat. In der Tragödie spielt vor allem im Arzneimittelsektor die Gier die entscheidende Rolle. Hontschik geißelt als aktuelles Beispiel die Libertinage des Staates gegenüber den Corona-Impfstoffherstellern. Das groteske Missverhältnis der Impfquoten auf dem Globus wird in allen gut strukturierten Medien zwar beschrieben: das Nachsteuern der Politik aber verläuft im Zeitlupentempo. Ein weiteres Kapitel widmet sich der Digitalisierungsdebatte. Außer Spesen nichts gewesen, könnte man sagen, während der Weg Estlands kaum Beachtung findet: Dieses Land hat es deutlich besser geschafft, patientendienliche Datenströme unter Wahrung des Schutzes individueller Rechte zu organisieren. In der abschließenden Reflexion über „Medizin als Herrschaftsinstrument“ äußert Hontschik die Befürchtung, die Pandemiepolitik könne einen spürbaren Schaden für eine demokratische Debattenkultur angerichtet haben. Eine andere Deutung könnte lauten, dass nach Abebben der Pandemie der Dampfer weiterfährt wie bisher, dass es auch in Zukunft bei der Beschwörung von integrierter Versorgung und anderen wohlklingenden Floskeln bleibt. Ganz zu schweigen von den Forderungen, die der Autor am Schluss formuliert: flächendeckender nationaler Krankenhausplan, Aufhebung der Trennung zwischen ambulanter und stationärer Medizin, Pauschalierung der Vergütung allerorten, Positivliste für Arzneimittel, Blockchain-Lösungen für die Digitalisierung, kompromissloser Primat der Evidenzbasierung in den gesundheitsbezogenen Angeboten. Eine ausführliche Liste von Organisationen gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens von medico international bis LobbyControl schließt das Buch ab. Wer kann solche Kräfte bündeln? Und wer mag dem dramatischen Szenario des Autors widersprechen? [1]

Norbert Schmacke, Bremen



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Article published online:
14 July 2022

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