Nervenheilkunde 2022; 41(07/08): 456-464
DOI: 10.1055/a-1772-0120
Editorial

Kant, Ionen oder NF-kappaB – Warum sind Wasserfälle gesund?

Manfred Spitzer

Im Folgenden geht es um nichts weniger als die Aufklärung des Wirkungsmechanismus von Wasserfällen auf die menschliche Gesundheit. Wasserfälle ([ Abb. 1 ]) sind ein Naturschauspiel der ganz besonderen Art, denn sie erzeugen ein sehr starkes Erleben von Natur. Ihr Anblick bewirkt Staunen und Ehrfurcht, beim sich Nähern wird ihr Rauschen immer lauter bis zur Unmöglichkeit der sprachlichen Kommunikation, die Luft wird feuchter bis zur völligen Durchnässung und ihre Gewalt immer spürbarer, „bis ins Mark“ erschüttern sie einen – hätte man früher gesagt.

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Abb. 1 Multnomah Falls, der mit 189 Metern höchste Wasserfall in Oregon. Quelle: ©M. Spitzer, Ulm

Vom Naturerleben wiederum, insbesondere dem Erfahren von Natur und Wasser (von Brunnen bis Küste [21]), ist seit langem bekannt, dass es sehr positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat. Nicht zuletzt deswegen gibt es hierzulande seit mehr als 200 Jahren Seebäder. Im Jahr 1982 hat das japanische Ministerium für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei das „Waldbaden“ („shinrin-yoku“) als Terminus Technicus für dieses Phänomen in die Diskussion eingeführt und als Forschungsgegenstand etabliert, und 25 Jahre später (2007) wurde die japanische Gesellschaft für Waldmedizin gegründet [18]. In Neuseeland können Ärzte seit fast 20 Jahren sogenannte „Grüne Rezepte“ (d. h. schriftliche Ratschläge an einen Patienten, sich im Rahmen seines Gesundheitsmanagements körperlich zu betätigen) ausstellen [16]. Mittlerweile gibt es entsprechende Initiativen in anderen Ländern: In Finnland beispielsweise richtete die International Union of Forest Research Organizations (IUFRO) eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe ein, um die Forstwirtschaft mit Gesundheitsexperten zu vernetzen [10], [17]. Der schottische Nationale Gesundheitsdienst hat 2018 in allen 10 Hausarztpraxen auf den Shetland-Inseln mit der Einführung von „Nature Prescriptions“ begonnen. Im Jahr 2020 wurde daraufhin auch in Edinburgh an 5 Allgemeinarztpraxen ein Pilotprojekt konzipiert, um zu prüfen, ob dieser Ansatz auf andere Teile Schottlands ausgeweitet werden kann [19]. Im gleichen Jahr 2020 kündigte der britische Umweltminister eine staatliche Investition für „Green Social Prescribing“ an, um die Menschen besser an naturbasierte Interventionen heranzuführen, ihr psychisches Wohlbefinden zu verbessern, gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern und die Nachfrage nach Gesundheits- und Sozialfürsorge zu reduzieren [7].

Selbst die Kosteneffizienz von Naturerleben wurde mittlerweile nachgewiesen [2], [14], [25]. So ergab ein 12-wöchiges schottisches Programm, durch verschiedene Aktivitäten im Wald die psychische Gesundheit, Vitalität und Lebensqualität von Menschen zu verbessern [4], dass das Programm kosteneffektiv war: Seine Kosten beliefen sich auf jährlich 17 300 Britische Pfund pro qualitätsbereinigtem Lebensjahr (QALY), was unter dem Grenzwert von 30 000 Pfund des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) liegt, womit die Intervention als kosteneffektiv bewertet wurde.



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Article published online:
28 July 2022

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