intensiv 2022; 30(01): 6-7
DOI: 10.1055/a-1669-6456
Kolumne

Fluktuation 2.0

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(Quelle: Paavo Blåfield/Thieme)

Es ereignet sich nichts Neues. Es sind immer dieselben alten Geschichten, die von immer neuen Menschen erlebt werden.

William Faulkner (1897–1962), US-amerikanischer Schriftsteller

Seit nun mehr als 20 Jahren wohne ich hier in meinem Stadtteil, und genauso lange Zeit kaufe ich in den immer gleichen Läden ein. Erstaunlicherweise sind die Kassiererinnen im Supermarkt, die Verkäuferin beim Bäcker oder Metzger immer dieselben. Im Lauf der Jahre kennt man sich, fragt nach dem Befinden, wünscht sich ein schönes Wochenende. Das hat was! Eine beruhigende Kontinuität, Vertrautheit, Verlässlichkeit.

Als ich Ende vergangenen Jahres die Station verlassen habe, war niemand mehr aus der ursprünglichen Besetzung von der Stationseröffnung vor 15 Jahren da. An diese ersten Kolleginnen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Mit einigen pflege ich heute noch freundschaftlichen Kontakt. Sie halten mich über die Ereignisse aus ihrem Privatleben oder über ihre beruflichen Entwicklungen auf dem Laufenden. Das finde ich sehr schön. Wir hatten aber auch damals miteinander großes Glück: Ganze fünf Jahre hatte unsere Station keinerlei Fluktuation zu verzeichnen. Besonders war auch, dass wir es in einem Jahr geschafft hatten, keinerlei Kranktage in der Jahresendstatistik stehen zu haben. Das war mir vorher und ist auch nachher nicht mehr passiert. Ich habe diese Zeit in besonders guter Erinnerung. Und das nicht nur, weil wir uns sehr gut verstanden und zusammengehalten haben oder auch sehr gut miteinander feiern konnten. Nein, es war auch beruflich in jeder Hinsicht eine erfolgreiche Zeit.

Zunächst haben wir ja diese Station aufgebaut. Es war in der Klinik und auch für uns ein neues Fachgebiet. Ich bin heute noch der Klinikleitung inklusive der PDL dankbar, dass sie uns freie Hand und Raum gelassen haben und wir uns richtig ausprobieren durften. Jede und jeder konnte sein Wissen, seine Erfahrung, Innovation und Lust bei der Gestaltung einbringen. Das war nicht nur sehr schön, sondern in ziemlich kurzer Zeit auch sehr erfolgreich. Aber noch besonderer ist, dass ich diese Zeit, auch wegen der Beständigkeit im Team durch die nicht vorhandene Fluktuation, mit als meine beruflich schönste Zeit empfinde.

Dann aber, nach den ersten fünf Jahren, nahmen die Dinge ihren Lauf. Ein Kommen und Gehen. Vielleicht hätte ich mir mal die Mühe machen und die Anzahl und die Verweildauer der Kolleginnen und Kollegen ermitteln sollen. Unsere PDL versucht immer, in abschließenden Gesprächen mit den zukünftig ehemaligen Mitarbeitern die Gründe für deren Kündigungen festzustellen. Und kam danach schon manches Mal zu dem Schluss, dass es an schlechter Leitungsarbeit liegt. Diesen „Schuh“, so selbstbewusst und reflektiert bin ich dann schon, ziehe ich mir aber nicht an. Wenn die Rahmenbedingungen oder die öffentliche Darstellung und Realität oder Wunsch und Wirklichkeit nicht stimmen, kann jede Stationsleitung – auch ich – leiten so gut sie nur kann: Es wird die Kollegen in ihrem Entschluss nicht besonders lange beeinflussen.

Ein Beispiel: Im Januar 2021 kam eine neue Mitarbeiterin zu uns. Direkt aus New York eingeflogen. Viel Leitungserfahrung. Hoch qualifiziert. Und, ganz verrückt: auch noch sehr nett und grundsympathisch. Sie sollte meine Nachfolgerin werden, wenn ich mich verabschiede. Anfangs (und auf Station eigentlich bis zum Schluss) lief es wirklich gut. Aber schon nach einigen Wochen bemerkte ich eine leise Unzufriedenheit. Es stellte sich nach und nach heraus, dass sie sich eigentlich andere Rahmenbedingungen vorgestellt hatte. So zum Beispiel die Arbeitszeit. Sie wollte eigentlich nur von Montag bis Freitag im Frühdienst, bestenfalls noch in Gleitzeit arbeiten. Ein schöner Gedanke und vielleicht sogar auch ein frommer Wunsch unserer PDL. Wünscht sie, die PDL, es doch, dass die Leitungen in der Kernarbeitszeit der Klinik präsent sind. Ich hatte auch großes Verständnis für die neue Kollegin: Wenn ich einen Neustart wage, sogar in ein anderes Land ziehe, mich mit viel Kompetenz, Erfahrungen inklusive hochwertiger Weiterbildungen im Portfolio bei neuen Arbeitgebern bewerbe, würde ich auch einen Mehrwert daraus ziehen wollen. Sei es beim Gehalt oder bei den Arbeitszeiten oder anderen Rahmenbedingungen. Aber machen wir uns mal nichts vor: Der Alltag sieht zumindest bei uns auch für eine Leitung ein kleines bisschen anders aus. Da steht man jedes zweite Wochenende auf der Stationsmatte. Unsere Personaldecke ist derzeit so knapp, dass es schon rein rechnerisch überhaupt nicht drin ist, dass irgendjemand jedes Wochenende frei haben kann. Und das gilt nicht nur für die Urlaubszeit.

So kam es, wie es kommen musste: Die Kollegin hat sich eine andere Arbeit gesucht. Eine, die ihren individuellen Wünschen näherkommt, als wir es je hätten kommen können. Alle im Team bedauerten ihre Entscheidung sehr. Es hätte ringsherum so gut gepasst. Sehr, sehr schade.

Und wieder war eine Planstelle frei! So geht das nun seit Jahren regelmäßig. Ein bisschen ermüdend und frustrierend ist es schon.

Laut Bundesagentur für Arbeit liegt die durchschnittliche Vakanzzeit einer freien Stelle in anderen Berufen bei 118 Tagen. In der Pflege sind es 154 Tage. Die Fluktuation in der Pflege wird in einigen Statistiken mit bis zu 40 Prozent angegeben, die Verweildauer im Beruf zwischen 8,5 und 13 Jahren. Darüber, wie viele Pflegekräfte es überhaupt gibt und wie viele ganz und gar fehlen, möchte ich gar nichts schreiben. Die Zahlen schwanken sehr und werden ja auch regelmäßig in aktuellen Nachrichten beklagt. Das einzig Tröstliche an diesen grausigen Zahlen ist für mich, dass es vielen anderen Stationen ebenso geht wie unserer. Nur: schön ist anders.

Ich frage mich, was hat oder kann der Supermarkt oder der Bäcker an der Ecke, wozu wir nicht imstande sind? Die Arbeitszeiten oder Gehälter können es ja kaum sein. Vielleicht sind es die Rabatte und Sonderaktionen – damit können wir leider nicht dienen!

In diesem Sinne

Ihre

Heidi Günther

guenther-heidi@web.de



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Article published online:
03 January 2022

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