Krankenhaushygiene up2date 2021; 16(04): 357-361
DOI: 10.1055/a-1545-5851
Editorial

„Das Richtige tun (statt Dinge richtig tun)“

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Prof. Dr. med. Simone Scheithauer

Eigentlich – so könnte man meinen – müsste die Pandemie, neben allen dramatischen direkten und indirekten Implikationen, einen echten Schub für die Belange der Hygiene geleistet haben. Hygiene war und ist in aller Munde und Hände, Infektionskontrolle DAS Narrativ, und noch nie wurden die Insignien der Hygiene im Mainstream so positiv besetzt wie aktuell.

Initial waren die Regale leer – nicht nur für Toilettenpapier, sondern auch für alles, was desinfiziert – sei es in flüssiger Form, auf Tüchern, in Waschmitteln oder als Sprays. Die inländische Produktion von Desinfektionsmitteln im Januar 2020 stieg zum Vorjahr um 29 %. Im April 2020 wurde der bisherige Jahreshöhepunkt erreicht: Mit 14 800 Tonnen Wirkstoffgewicht wurden 161 % mehr produziert als im April 2019 mit rund 5700 Tonnen. Zugegeben: auch die Produktion von Nudeln stieg im März/April 2020 um ca. 75 % im Vergleich zu dem Vorjahreszeitraum an [1].

Die Nachfrage an medizinischen Einmalhandschuhen war bereits vor der Pandemie höher als deren Produktion (2018 Angebot: 268 Mrd. St., Nachfrage 280 Mrd. St.) und konnte trotz Produktionssteigerung nicht bedient werden (2021 Angebot: 420 Mrd. St., Nachfrage 500 Mrd. St. [2]). Bemerkenswert sind – ganz unabhängig von der Pandemie – weiterhin folgende Fakten: Der globale Umsatz an Einmalhandschuhen betrug 2019 7,6 Mrd. US$ mit durchschnittlicher jährlicher Wachstumsrate von 7,7 % (Hochrechnung, 2020–2025) [3], und die Anzahl der Beschäftigten in der Produktion lag je 1 Million St. Handschuhe 2008: 9,7 Arbeiterinnen, 2020: 1,7 Arbeiterinnen.

Das Marktforschungsinstitut FORSA hat im Auftrag der KKH[*] ca. 1000 Personen im Alter von 18–70 Jahren im Mai 2015 sowie jeweils im März/April 2019 und 2020 befragt. Erfreulicherweise berichteten beinahe 100 %, dass sie sich nach jedem Toilettengang die Hände waschen – und das bereits vor der Pandemie. Auffallend im Jahresvergleich 2019 zu 2020 sind der Anstieg des Händewaschens nach dem Nach-Hause-Kommen um 31 % (von 71 % auf 93 %) und nach dem Berühren von Gegenständen, die kontaminiert sein könnten, z. B. den berühmt berüchtigten Türklinken um 49 % (von 45 % auf 67 %). 83 % der Befragten versuchten 2020, solche „Gegenstände“ seltener zu berühren (2015: 46 %; 2019: 53 %). Immerhin ein Drittel gab im Jahr 2020 an, immer Desinfektionsmittelspray dabei zu haben [4].

Was heißt das jetzt? Nun, abgesehen von den Aspekten Globalisierung und Arbeitsbedingungen bringt es uns zu der Frage: Ist das die wirksame Hygiene, die wir meinen? Und was heißt das für die Krankenhaushygiene?

Das verfolgte Ziel ist klar: Selbstschutz – und das ist nicht nur legitim, sondern auch gut so. Dass wir als Gesellschaft am Anfang der Pandemie über das Ziel hinausgeschossen sind, ist situationsimmanent. Problematisch erscheint, dass es uns kaum gelingt, den Fokus – nach Erlangen von Wissen – auf die wirklich effektiven Punkte zu legen. Gerade letzte Woche ereilte mich die eigentlich längst vergessene, als erledigt abgehakte Frage nach der Desinfektion gerade gekaufter Produktverpackungen vor dem Einräumen. Unverpacktläden vorzuschlagen, löst nicht das dahinterliegende Problem.

Wenden wir uns der zweiten Frage zu, die wir auch modifizieren können: Hat die Pandemie die Krankenhaushygiene beeinflusst? Die Antwort ist zweifelsfrei: ja. Wir werden mehr als üblicherweise wahrgenommen, sind eingebunden in Krisenstäbe, die wir oft sogar leiten, haben neue Aufgaben übernommen und z. T. neue Strukturen geschaffen, wie z. B. Kontakttracing-Teams. Wir haben gut durchdachte, lebbare Konzepte zur Prävention der SARS-CoV-2-Transmissionen etabliert und umgesetzt – und das immer mit vielen anderen Fachkolleg*innen zusammen als echte Teamaufgabe. Das über die Pandemie hinaus weiter zu entwickeln, sollte uns ein Anliegen sein. Es gelang so, unsere Patient*innen, aber auch unsere Kolleg*innen bestmöglich – und das ist ja unser originärer Fokus – vor im Krankenhaus erworbenen SARS-CoV-2-Infektionen zu schützen und Ausbrüche weitestgehend zu vermeiden. Wir könnten uns also auf die Schulter klopfen. Aber: Ist das gerechtfertigt? Ich habe begründete Zweifel. Und ich nehme es direkt vorweg: Ich habe keine finale Antwort.

Die Gretchenfrage ist doch: Hat diese intensive Beschäftigung Aller mit „Hygiene“ – insbesondere mit der Vermeidung der Übertragung von SARS-CoV-2 – die Transmissionskontrolle und Infektionsprävention generell beeinflusst? Und wenn ja, in welche Richtung? Eine nicht repräsentative, nicht strukturierte Befragung hierzu, die ich in 2020 unter Fachkolleg*innen durchgeführt habe, kam zu demselben Ergebnis wie eine Abfrage, die Alexander Mellmann und ich bei der Vorbereitung eines Pitches zu infektionsmedizinischen Kollateraleffekten in der Pandemie für das NUM-2 *2 durchführten. Etwa die Hälfte aller Kolleg*innen war der Meinung, dass durch die optimierte Hygiene auch die krankenhaushygienischen Endpunkte von Interesse (nosokomialer MRE-Neuerwerb, nosokomiale Infektionen, Ausbrüche) positiv beeinflusst wurden. Die andere Hälfte war von einem negativen Einfluss überzeugt. Und beide Gruppen hatten gute Begründungen: Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und die kontinuierlichen Schulungen und Updates auch zum adäquaten Gebrauch von PSA könnten ebenso wie die freigehaltenen Bettenkapazitäten in der ersten Phase der Pandemie von Vorteil gewesen sein. Als nachteilig könnten sich die zumindest initiale (drohende) Verknappung von Desinfektionsmitteln und PSA sowie Overcrowding und Understaffing (auch infolge der Betroffenheit der Beschäftigten als Teil der Bevölkerung) ausgewirkt haben. Hier zeigt sich, dass wir es in den einzelnen Pandemiephasen möglicherweise mit unterschiedlichen Konstellationen zu tun hatten. Dies trifft z. B. auf das Spektrum der Patienten zu: In 2020 gab es – bedingt durch den Aufschub elektiver Indikationen – mehr multipel vorerkrankte und Notfallpatient*innen. Auch darf die Hypothese aufgestellt werden, dass die regionale Inzidenzdichte ein Einflussfaktor ist.

Werfen wir also einen Blick auf die – von der Theorie her – einfach messbaren Endpunkte:

Der Vergleich der Inzidenzdichte der nosokomialen MRSA der Jahre 2018, 2019 und 2020 ergibt einen Abfall, allerdings bei einem parallelen Abfall der mittleren täglichen MRSA Last [5]. Meldepflichtige Erreger (dies sind Carbapenem-resistente Enterobacterales und Acinetobacter-Isolate sowie invasive/schwere Verläufe von MRSA und Clostridioides-difficile-Infektionen) gingen in 2020 um mindestens 30 % im Vergleich zum Erwartungswert (basierend auf den vorhergehenden 5 Jahren) zurück [6]. Die Anzahl der durch Bakterien bedingten Ausbrüche in Krankenhäusern sank von 99 auf 33 (2019 zu 2020), ein relevanter Anteil davon dürfte durch multiresistente Erreger verursacht worden sein [6]. Also doch Schulterklopfen? Meine Zweifel bestehen fort, warum?

Ein Blick in die New York Times vom 02. September 2021 genügt. Hier wird zusammengefasst (man kann es auch auf den Seiten der CDC, NHSN nachlesen): Gegenläufig zum Trend der Vorjahre stiegen die durch MRE bedingten Blutstrominfektionen und beatmungsassoziierten Pneumonien im vierten Quartal 2020 um beinahe 50 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum an, Infektionen durch MRSA stiegen um 34 % an [7]. Die Rate der durch MRE bedingten Ko-Infektionen bei nosokomialen SARS-CoV-2-Infektionen liegt deutlich höher als bei nosokomialer Influenza-like-illness [8]. Auch sehr lesenswerte Ausbruchsanalysen helfen bei dem Verständnis möglicher Ursachen [9] [10]. Die zentrale Relevanz von Infektionsprävention und -kontrolle für die schleichende MRE-Pandemie wird auch durch ein CDC-initiiertes Expertenpanel im Sommer diesen Jahres hervorgehoben: „IPC is the cornerstone of a resilient healthcare system. IPC programs lost progress as they lost workers. IPC is a best buy for public health [11].

Sind die markant gestiegenen Infektionsraten durch MRE ein auf Nordamerika beschränktes Phänomen? Die Literatur bietet dazu bislang ein kontroverses Bild [12] [13] [14] [15] [16] [17]. Es ist zumindest sehr nachvollziehbar, dass die COVID-19-Pandemie nicht nur in den USA zu infektionsmedizinischen Kollateraleffekten geführt hat. COVID-19-Präventionsmaßnahmen fokussieren auf die sog. „droplet/airborne precautions“; die sog. „contact precautions“ haben nach derzeitigem Stand zumindest bei den aktuell empfohlenen Verhaltensweisen (Abstand, Mundnasenschutz, Niesetikette, etc.) eine deutlich untergeordnete Relevanz in der Vermeidung der SARS-CoV-2-Transmission. COVID-19-Präventionsmaßnahmen können dabei mental zudem noch stärker als sonst bekannt auf Eigenschutz fokussieren, d. h. Händehygiene-Indikation 4 /5 gemäß WHO. Für die Prävention von Übertragungen von Bakterien wäre aber Indikation 1 am wichtigsten, für die Prävention von nosokomialen Infektionen Indikation 2. Als „contact precautions“ verstandene Maßnahmen sind zudem nicht gleich „contact precautions“. So könnte die Festlegung ganzer Stationen/Bereiche als COVID-Bereiche z. B. dazu führen, dass langärmelige Schutzkleidung innerhalb des Bereiches nicht regelgerecht gewechselt, respektive zusätzliche Schutzkleidung – wenn erforderlich – nicht getragen wird.

Daraus folgt für mich: Möglicherweise haben wir (oder einige von uns?) in der Absicht, SARS-CoV-2 bestmöglich zu kontrollieren, unsere Linienaufgaben stark zurückgestellt, zurückstellen müssen. Dies war der hohen Arbeitslast und einer – im Verlauf der Pandemie – nicht immer optimalen Priorisierung geschuldet. Die Relevanz einer angemessenen Anzahl von Beschäftigten, die sich der Kontrolle von MRE widmen, wird durch eine aktuell veröffentlichte WHO-geführte Befragung der jeweils für antimikrobielle Resistenz verantwortlichen nationalen Stellen deutlich. Etwa 2 /3 der Befragten gaben eine Verknappung dieser personellen Ressource in Pandemiezeiten an [18]. Wir haben vielleicht versucht, alles zu perfektionieren und nicht mehr die Effektstärken bzgl. aller relevanten Endpunkte von Interesse berücksichtigt. Wir haben also formal alles rund um COVID-19 richtiggemacht, aber vielleicht nicht immer „das Richtige“ gemacht, eben im Pandemiemodus.

Wohin führt uns das? Nun, ich denke zumindest zu zwei vorläufigen Erkenntnissen:

  1. Hygiene ist nicht gleich Hygiene. Nur weil ich einen Erreger gut kontrolliere, gilt dies nicht zwangsläufig auch für andere Erreger.

  2. Die Situation ist komplexer als sie bisweilen dargestellt wird.

Um eindeutige Antworten auf die ungeklärten Fragen geben zu können, Assoziationen oder sogar kausale Zusammenhänge zu erkennen, benötigt es weitere Analysen. Wir sollten unsere Daten dazu gemeinsam auswerten, um die komplexen Zusammenhänge besser zu verstehen und „best practice“ zu identifizieren, und umso besser gewappnet zu sein für ähnliche zukünftige Situationen. Oder schlicht: um dann sicher das Richtige zu tun.

Ihre
Simone Scheithauer



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Article published online:
29 November 2021

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