Pneumologie 2021; 75(06): 416-417
DOI: 10.1055/a-1485-6014
Buchbesprechung

Ins Mark getroffen

Die Diagnose „Karzinom“ führt die betroffenen Patienten und ihre Angehörigen in eine existentielle Lebenskrise. Dies trifft umso mehr zu, wenn der Betroffene bisher gesund war und sich in einer Klinik für Intensivmedizin seit langem in einer verantwortlichen Position befand. So erging es im Jahr 2015 Herrn Prof. Dr. Thomas Bein, dem national und international renommierten Intensivmediziner aus der Klinik für Anästhesie am Universitätsklinikum Regensburg. Zusätzlich absolvierte er den Studiengang Medizinethik.

T. Bein arbeitete seinerzeit im 60. Lebensjahr sehr erfolgreich auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Karriere in unterschiedlichen Netzwerken, wie z. B. der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), zu den Forschungsschwerpunkten „Beatmung bei ARDS“ und „Lebensqualität nach überstandenem ARDS“ und publizierte hierzu in hochrangigen Journalen.

Nachdem T. Bein infolge gefühlter Vollauslastung im Berufsleben mehrfach eigentlich vorgesehene betriebsärztliche Routineuntersuchungen versäumte, ergab die schließlich doch durchgeführte Labordiagnostik eine ausgeprägte Leukozytpenie und die weiterführenden Untersuchungen die Diagnose „Plasmozytom“.

Mit dem Titel des Buches „Ins Mark getroffen“ steht metaphorisch das wesentliche Organ der Krebsmanifestation für die existenzbedrohende Krebsdiagnose. Der Autor spricht mit seinem Buch eine breite Leserschaft an, deren Spektrum von Ärzt*innen in Klinik und Praxis, Student*innen in den fortgeschrittenen Semestern, interessierten Patienten bis zu nicht-ärztlichen Mitarbeiter*innen im onkologischen und palliativmedizinischen Umfeld reicht.

Der Autor verbindet in seinem Buch, das sich in 10 Hauptkapiteln mit pointierten Überschriften gliedert, die sachlichen, aber z. T. auch humorvollen Beschreibungen seiner Erlebnisse als Krebspatient (z. B. während der Diagnostik, den Aufklärungsgesprächen bzgl. der Tumordiagnose mit den betreuenden Onkologen, der Begegnungen mit Pflegepersonal und anderen onkologischen Patienten während der über 1 Jahr dauernden Therapie) mit der Reflektion hierauf, wobei er die assoziierten ethischen, psychologischen, philosophischen und gesundheitspolitischen Aspekte mit bemerkenswertem Sachverstand vertieft.

Wichtige Themenfelder zu konkreten Erlebnissen sind: Körperliche und seelische Beeinträchtigung durch schmerzhafte diagnostische Interventionen, das Überbringen von schlechten Nachrichten, die Herausforderung in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient, mit der Krebsdiagnose einhergehender Perspektivwechsel vom Arzt zum Patienten, die Rolle des Arztes zwischen Kommerz und Humanität, Erlebnisse und Erfahrungen mit der Hochleistungsmedizin im stationären Bereich (v. a. geprägt durch die Stammzelltransplantation) und in der onkologischen Ambulanz.

Der Autor berichtet authentisch und sehr konkret unter der Überschrift „Punktionen und andere Angriffe“ über körperliche Beeinträchtigungen während unterschiedlicher therapeutischer Maßnahmen, wie z. B. Anlegen eines zentralen Zugangs, intravenöse Gabe der Chemotherapie und nächtliche Applikation von Medikamenten über Spritzenpumpen, deren Antriebsgeräusch er übrigens wie einen „nächtlichen Gesang“ wahrnimmt.

Die Überschriften einer Reihe von Kapiteln, die somatische und psychosomatische Missempfindungen infolge der Grunderkrankung und Therapie behandeln, werden durch in Klammern gesetzte stimulierende Gedanken ergänzt, wie z. B. wochenlang anhaltende Übelkeit („Zur Philosophie der Übelkeit“), Gewichtsverlust („Das Gewicht, die Drohung und die Astronautenkost“) und Haarausfall („Die ersten Haare im Waschlappen und ein Lob der Kahlheit“).

Im Buch werden die ähnliche Befindlichkeiten und Wahrnehmungen bzgl. des Begriffes „social distancing“ von onkologischen Patienten während der Pharmakotherapie einerseits und der Bevölkerung während der COVID-19-Pandemie andererseits beschrieben und tiefsinnig interpretiert. Insbesondere schildert der Autor die negativen psychologischen Auswirkungen der Gesichtsmaske während seines mehrwöchigen Aufenthaltes im Rahmen der Stammzelltransplantation in der als „Stadt der halben Gesichter“ bezeichneten onkologischen Isolierstation und reflektiert seine hiermit verbundenen persönlichen Erfahrungen vor dem Hintergrund der Maskenpflicht. T. Bein bringt diese Situation wie folgt auf den Punkt: „Gesichtsmasken schränken die freie Entfaltung von Mitgefühl und Zuwendung ein“ – und das betrifft inzwischen ja nicht mehr nur den Hochsicherheitstrakt für Patienten nach Stammzelltransplantation, sondern die ganze Gesellschaft in Zeiten der COVID-19-Pandemie.

V. a. aus der Patientensicht werden im Buch die offensichtlichen Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens in der jüngeren Vergangenheit, wie z. B. die enge zeitliche Taktung der Patientenbehandlung in der onkologischen Ambulanz, beschrieben. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die nüchterne Feststellung des Autoren, dass aktuell zur Ausgestaltung der Humanität dem Patienten, aber auch der Wertschätzung den Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen gegenüber nur noch wenig Energie aufgewandt wird.

Sowohl aus der Sicht des Patienten als auch des Arztes wird vom Autoren das Thema „Empathie“ im Spannungsfeld zwischen einem „zu viel“ und „zu wenig“ in einem eigenen Kapitel eingehend erläutert. Auch wenn „Empathie“ als wichtiger Faktor in der Arzt-Patienten-Beziehung unverzichtbar ist, plädiert T. Bein für den gesunden Abstand zwischen Therapeuten und Patienten und regt an, diese Tugend differenziert zu betrachten und den adäquaten Umgang damit schon möglichst früh in der Ausbildung einzuüben.

T. Bein beschreibt in aller Sachlichkeit und Ehrlichkeit die Ängste, die sich für ihn direkt aus der Krebserkrankung ergaben: Angst vor dem Verlust von Bedeutsamkeit, Leistungsfähigkeit, Anerkennung und letztlich der bis zur Diagnosestellung für ihn selbstverständlichen Zugehörigkeit zur Welt.

In diesem Zusammenhang beschreibt der Autor die für ihn lebenslang bleibende Ungewissheit im Spannungsfeld zwischen formal erfolgreich abgeschlossener Krebstherapie und der dennoch weiter bestehenden Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs. Der Leser/die Leserin begleitet den Autor während seiner Gedankengänge bzgl. der hiermit verbundenen Existenzängste und erfährt dabei, wie T. Bein im Laufe der Jahre erlernt, die eigene Angst auszusprechen und sie als beständige Begleiterin anzunehmen. Passend hierzu sagt Søren Kierkegaard, dass die Flucht vor der Angst eine menschliche Schwäche darstellt und es eine große menschliche Leistung ist, sie zuzulassen und auszuhalten (was allerdings nichts für Weichlinge sei) [1].

Leid und Trauer, die mit seiner Krebserkrankung verbunden sind, werden von T. Bein nicht „wegargumentiert“, sondern wahr- und ernstgenommen. Der Autor beschreibt realistisch, wie ihn die Trauer verletzbar macht. Offensichtlich entwickelt er aber genau deshalb neue Sichtweisen auf sein Leben mit der Krebserkrankung.

Der Autor stellt kritische Fragen zu gängigen Verdrängungsmechanismen der Patienten, aber auch unserer Gesellschaft angesichts schwerer Erkrankungen, Abschiednehmen und Vergänglichkeit, die Odo Marquard als „Illusion der modernen Gesellschaft“ charakterisiert [2].

In diesem Zusammenhang ermutigt sich der Autor, aber auch seine Leserschaft, die dem Grunde nach unerhörte Provokation des eigenen Sterbens nicht zu verdrängen, sondern als Begleiter in unserem Leben zuzulassen, und schließt sich damit Michel de Montaigne an, der es so formuliert: „Berauben wir den Tod seiner Unheimlichkeit, pflegen wir Umgang mit ihm und gewöhnen wir uns an ihn“ [3].

Schließlich beschreibt T. Bein im Kapitel „Tod – nicht länger zu ignorieren“ durchaus selbstkritisch aus der Sicht des Intensivmediziners mit einer „Tendenz zur technischen Allmacht“ den Einsatz von Hightech-Verfahren unter dem Aspekt der Sinnhaftigkeit bzw. Sinnlosigkeit dieser Maßnahmen bei schwerkranken Patienten und warnt vor der Gefahr einer „multipotenten Todesverdrängung“. Er fordert vor allem die verantwortlichen Ärzt*innen auf, dem irrigen Postulat unserer „krankheitsfreien Gesellschaft“ gegenüber kritisch zu sein. Mit der Qualität „Guter Arzt“ verbindet der Autor die Gabe der Unterscheidung zwischen sinnvoller und sinnloser Therapie und den Mut, Endlichkeit und Sterben anzusprechen und ggfs. auch zuzulassen.

Prof. Dr. Bernd Schönhofer, Bielefeld

Literatur

[1] Kierkegaard S. Der Begriff der Angst. Stuttgart: Reclams Universal-Bibliothek; 1992: 63

[2] Marquard O. Endlichkeitsphilosophisches: Über das Altern. Stuttgart: Reclams Universal-Bibliothek; 2013: 70-75

[3] de Montaigne M. Essais. Frankfurt: Eichborn Verlag; 1998: 46



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Article published online:
11 June 2021

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