Scham undWürde: Auf Physiotherapie übertragbar

Unerhört bedeutet unglaublich oder außergewöhnlich, aber auch empörend oder anstößig. Unerhört kann aber auch so verstanden werden, dass etwas „unerzählt“ und somit ungehört bleibt. Ursula Immenschuh, Professorin für Pflegepädagogik und -wissenschaft an der Katholischen Hochschule Freiburg, verschafft in diesem Buch den vielen facettenreichen Erlebnissen und Sichtweisen von Pflegenden zu Würde und Scham Gehör. Ihre Protokolle von Gruppensupervisionen mit Pflegekräften, die sich zu diesem Thema ausgetauscht und ihren Gefühlen und Assoziationen nachgegangen sind, bilden hierfür die Grundlage.

Scham ist brennend, schmerzt, lässt im Boden versinken. Scham fungiert aber auch als Hüterin der Würde, als Wächterin von Grenzen und kann ein starker Impuls zur Weiterentwicklung sein, so Immenschuh. Die Aufzeichnungen zu lesen berührt, nimmt mit und stößt an, selbst zu reflektieren und über eigene Geschichten von Scham nachzudenken. Obwohl das Buch im Kontext Pflege steht, ist manches auf die Physiotherapie übertragbar, und so frage ich mich beim Lesen: In welchen Situationen schäme ich mich, wann beschäme ich meine Patientinnen und Patienten? Wie gehe ich mit Scham um?

In ihren Analysen des gewonnenen Materials rollt die Autorin das Feld der Pflegenden auf, die alleingelassen sind und in dem Dilemma stecken, ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden zu können. Das schmerzt mitunter beim Lesen, beschäftigt mich daher aber auch nachhaltig. Und so passiert bei der Lektüre das, was Immenschuh schreibt: „Unerhörte Scham in der Pflege ist beschämend und entwürdigend, vor allem für die Pflegekräfte. Die Scham ist der Schlüssel dazu, […] sich betreffen zu lassen und die Pflege nicht mehr allein zu lassen damit.“ Das geht uns alle an.

Stephanie Moers, M.A. Physiotherapeutin aus Freiburg i. Brsg.

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Article published online:
31 May 2021