Rehabilitation (Stuttg) 2021; 60(03): 166-167
DOI: 10.1055/a-1446-0526
Buchbesprechung

Psychologie in der medizinischen Rehabilitation

Contributor(s):
Jürgen Höder
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Das 2016 zum ersten Mal erschienene Buch der beiden Psychologen und Professoren liegt nun, vier Jahre später, in der zweiten Auflage vor. Das bewährte Konzept haben die Herausgeber beibehalten: Über 50 ausgewiesene Experten – Praktiker, Wissenschaftler und Vertreter der Leistungsträger – informieren in 30 Artikeln über alle Themen, die für die Praxis von Rehapsychologen von grundlegender Bedeutung sind. Den größten Raum nehmen Beschreibungen von psychologischen Interventionen ein, zum Beispiel Motivational Interviewing, Patientenschulung oder Stressbewältigung. An zweiter Stelle stehen Informationen rund um die rehabilitationsspezifische Diagnostik. Ergänzt werden diese Themen durch Rehagrundlagenwissen über den gesetzlichen Auftrag der Rehabilitation, über Sozialmedizin, interdisziplinäre Teamarbeit und Nachsorge. Eine detailliertere Beschreibung habe ich in meiner Besprechung der ersten Auflage gegeben. Mein Fazit lautete: „Insgesamt ist ‚Psychologie in der medizinischen Rehabilitation‘ eine Fundgrube wissenschaftlicher Erkenntnisse, praktischer Anregungen und zukunftsweisender Ideen für jeden Rehapsychologen – ein wichtiges, ein wertvolles Buch, das in keiner Rehabilitationseinrichtung fehlen sollte[ 1 ]“.

Dieses Urteil gilt für die zweite Auflage genauso, ja noch mehr. Denn sie punktet mit einigem Neuen. Schon äußerlich ist das Werk mit 130 zusätzlichen Seiten gewichtiger geworden – nicht nur wegen des Druckbilds, das mit einer größeren Schrift die Lesefreude steigert, sondern v. a. wegen zahlreicher kleinerer und einiger größerer Ergänzungen. Literaturangaben, Internetadressen, Materialien, Empfehlungen, gesetzlichen Regelungen und weitere Informationen wurden sorgfältig auf den neuesten Stand gebracht. Völlig neue Beiträge bieten wertvolle Ergänzungen.

Dazu gehört ein Text über den Umgang mit substanzabhängigen Störungen als Komorbidität. Der Artikel widmet sich v. a. dem übermäßigen Konsum von Alkohol. Als ganzheitlich konzipiert, muss sich auch die somatische Reha damit auseinandersetzen. Die Autoren erläutern, welche Ziele dabei realistisch sind, welche diagnostischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen und welche Kurzinterventionen und psychoedukativen Maßnahmen in Frage kommen. Kleine Fallbeispiele und der Hinweis auf eine einschlägige Broschüre der Rentenversicherung runden den Beitrag ab.

Ein ganzer Themenblock mit 5 neu aufgenommenen Artikeln findet sich unter der Überschrift „Spezifische Versorgungssettings“. Sie befassen sich mit der Gestaltung psychologischer Arbeit unter den Bedingungen einer bestimmten Indikation. Den Anfang macht eine besondere Form der orthopädischen Rehabilitation. Sie orientiert sich an dem Rahmenkonzept der Rentenversicherung „Verhaltensmedizinisch orientierte Rehabilitation“ (VOR). Die Autoren beschreiben, für wen diese Rehaform konzipiert ist und wodurch sie sich von der herkömmlichen orthopädischen Reha unterscheidet. Es gibt zahlreiche Hinweise auf weitere einschlägige Dokumente, etwa das DRV-Anforderungsprofil, Leitlinien von Fachgesellschaften, die Praxisempfehlungen für psychologische Interventionen, die Reha-Therapiestandards, das Nachsorgekonzept und passende Patientenschulungsprogramme. Man erkennt, dass es sich um ein breit ausgearbeitetes und evaluiertes Konzept handelt.

Ähnlich das Kapitel über die Kardiologie. Es beruft sich ausdrücklich auf die Verhaltensmedizin. Genau wie die orthopädische VOR soll diese Form der Reha aus Sicht der Autoren im Umgang mit Patientinnen und Patienten mit zusätzlicher psychischer Komorbidität helfen. Besonders betont und beschrieben werden Interdisziplinarität, z. B. bei der Aufnahme und Entlassung durch mehrere Berufsgruppen, die Psychodiagnostik, die Therapie in geschlossenen Gruppen, Behandlerkonstanz, Teamarbeit, die Patientenschulung mit Informationen über die Wechselwirkung zwischen psychischer Befindlichkeit und Herzerkrankung und die partizipative Entscheidungsfindung. Wichtig ist den Autoren eine besondere Therapieform, die ausführlich dargestellt wird: die Akzeptanz- und Commitment-Therapie.

Weitere Kapitel im Teil „Spezifische Versorgungssettings“ betreffen die Diabetologie, die Onkologie und die Neurologie mit je nach Erkrankung unterschiedlichen Schwerpunkten, Inhalten und Zielen, aber ähnlichen Formen der Interventionen und der interdisziplinären Teamarbeit. Eine Besonderheit bringt die neuropsychologische Reha mit: Hier bearbeiten Psychologen nicht nur wie üblich Krankheitsfolgen oder gesundheitsrelevante Verhaltensweisen, sondern therapieren die Krankheit selbst, indem sie mit ihren Ansätzen die Restitution der beeinträchtigten neuronalen Netzwerke anstreben.

Eine kritische Anmerkung: In ihrer Einleitung schreiben die Herausgeber, die Rehabilitation „ist verhaltensmedizinisch orientiert“ und „basiert auf dem bio-psycho-sozialen Modell“. Ja, in der Theorie schon, aber in der Praxis? Wird die psychologische Arbeit in diesem Band so beschrieben, wie sie sich tatsächlich abspielt, oder so, wie sie sein sollte oder könnte? Ähnelt das vielbeschworene biopsychosoziale Krankheitsmodell in vielen Einrichtungen nicht eher einem Lippenbekenntnis (sofern es überhaupt bekannt ist)? Ganz zu schweigen von der Verhaltensmedizin, von der selbst die DRV in ihrem Konzept die verengte Vorstellung vertritt, sie sei für Rehabilitanden mit psychischen Störungen reserviert. An manchen Stellen schimmert durch, dass die Verwirklichung der Konzepte in der Praxis auf Hindernisse stößt. Nur drei Beispiele: Der von der DRV publizierte psychodiagnostische Stufenplan scheitert „zumeist“ (S. 55) an fehlenden Strukturen und Ressourcen der Einrichtungen. Die Implementierung moderner Patientenschulungen gelingt „häufig … nicht vollständig“. (S. 157) Unterschiedliche Berufsgruppen in multiprofessionellen Teams arbeiten „eher nebeneinander“ her (S.221). Auch die Ergebnisse des Qualitätsmanagements zeigen eine erhebliche Variation zwischen den Einrichtungen. Ein Vorschlag für die nächste Auflage: eine systematischere Analyse der Probleme, auf die Psychologen stoßen, wenn sie so arbeiten wollen, wie hier vorgeschlagen wird, und Anregungen, wie sie etwas dazu beitragen können, dass die Reha tatsächlich zu dem wird, was sie sein sollte. Doch, davon unberührt, mein Fazit bleibt: ein wichtiges, ein wertvolles Buch, das in keiner Rehabilitationseinrichtung fehlen sollte.

Dr. Jürgen Höder, Hamburg



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Article published online:
29 June 2021

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