neuroreha 2021; 13(02): 49
DOI: 10.1055/a-1402-5781
Editorial

Komplexität benötigt Kompetenz

Jan Mehrholz
,
Martin Lotze
,
Klaus Starrost

Diesmal habe wir das Thema Altern angepackt: Es ist hochrelevant, denn nicht nur die gesellschaftliche Herausforderung sowie die Rücksicht auf multipel Erkrankte und Senioren während der derzeitigen Pandemie haben sich grundlegend geändert, sondern auch unsere Klientel in der Neurorehabilitation. Alte Menschen benötigen angepasste Therapieziele und Therapieverfahren und zeigen fast immer verschiedene andere Probleme zusätzlich zur Einweisungsdiagnose. Die zunehmende Komplexität benötigt Kompetenz. Oft sind wir überfordert, und es fällt nicht leicht, Vorurteile über Bord zu werfen. Alter ist oft ein „Schreckgespenst“ in einer auf Jugend und Flexibilität priorisierten Gesellschaft. Ob wir wollen oder nicht: Bei einer immer älter werdenden Gesellschaft werden sich in den nächsten Jahrzehnten die Prioritäten ändern: Ältere Menschen werden ein größeres Gewicht in unserer Gesellschaft haben. Politik, Kultur und Wirtschaft werden sich rasch den veränderten Bedürfnissen anpassen. Wesentlich wäre hier, die Chance des Alterns kreativer anzupacken: Nicht die Tatsache, dass der Mensch in seinen Funktionen abbaut, sollte im Vordergrund stehen, sondern wie sich der alte Mensch trotz bereits zurückliegender Arbeitsphase weiter engagieren kann. Die sozialen, ökologischen und kulturellen Herausforderungen sind nicht nur für junge Menschen lebensentscheidend. Der Fokus auf die eigene Familie (auch mit den negativen Faktoren der Familienbande) ist durch die zunehmende Mobilität oft nicht mehr gegeben. Durch neue Wohnformen können sich flexible ältere Menschen dennoch sozial integrieren. Wir wissen auch seit Langem, dass ausreichend körperliche, aber auch geistige Beweglichkeit das Altern verzögert. Jetzt gilt es dies in der Breite umzusetzen.

In der Neurorehabilitation sehen wir die Patienten oft erst am Ende ihrer körperlichen Belastbarkeit. Leider können sehr alte Menschen nicht mehr den Restitutionsumfang erreichen, die der jüngere Mensch mit seinen Reserven bewältigt. Alter ist deshalb in vielen prognostischen Algorithmen ein negativer Prädiktor (siehe z. B. der PREP2 für die obere Extremität). Trotz aller für die Prävention notwendigen Motivation müssen wir hier realistische Ziele setzen.

Dieses Heft soll den Neurorehabilitationsmitarbeitenden Orientierung geben: Was ist besonders zu beachten in der Therapie älterer Menschen (Überblicksartikel von Martin Lotze)? Wo bestehen besondere Risiken, und warum geht die Therapie oft nicht so gut voran, wie wir es bei einem jungen Patienten erwarten würden (Stichwörter: Nebenwirkungen, sensorische Defizite, Multimorbidität)? Was ist eigentlich ein alter Mensch – sollte man das nur am Geburtsjahr festmachen (Stichwort Hirnalter im Artikel von Martin Lotze)? Wie mobil sind Patienten in der Rehabilitationsklinik wirklich, und was können wir danach zu Hause erwarten (Pilotstudie von Tobias Erhardt und Björn Eichmann). Gelingt uns hier auch nur annähernd das, was wir als Standard bei jungen Patienten voraussetzen? Wie gestalten wir die Sturzprophylaxe in der Klinik, ambulant oder zu Hause (Ellen Freiberger, Cornel C. Sieber und Katrin Singler)? Was können wir hinsichtlich der ambulanten Nachsorge bei schweren Erkrankungen tun, wenn anhand eines optimierten Förderprogramms vieles möglich wäre (Fallbeispiel von Maike Bamberger und Claudia Pott)? Was können wir bei einer Demenz (Arbeitsgruppe Elmar Gräßel zum digitalen Demenzprojekt Bayern als Teil der nationalen Demenzinitiative) empfehlen? Gerade im Hinblick auf die Demenztherapie hat sich einiges getan; hier stellen Kristina Diehl, Elmar Gräßel und Katharina Luttenberger mit dem „motorischen, alltagsrelevanten Training in einem sozialkommunikativen Umfeld“ eine effektive Therapie vor. Ein wesentliches Problem ist die ausreichende Personalbereitstellung auch im Bereich der Arbeit mit alten Menschen. Was kann in der geriatrischen Neuroreha über Geräte erreicht werden, wie sieht es in der Forschung für gerätegestützte Rehabilitation aus und was können wir hier in Zukunft erwarten (Michael Miro und Team)?

Wir haben uns darauf fokussiert, vor allem neue Akzente zu setzen. Sie sehen, realistische und strukturierte Ziele zu formulieren ist auch für uns immer eine neue Herausforderung.

Das Herausgeberteam der neuroreha
Martin Lotze, Jan Mehrholz und Klaus Starrost



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Article published online:
11 June 2021

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