Der Klinikarzt 2020; 49(11): 445
DOI: 10.1055/a-1278-5783
Zum Thema

Triage bei COVID-19: Ist Krebs ein Kriterium?

Günther J. Wiedemann

Jeder erinnert sich an die Bilder aus Italien, als zu Beginn der COVID-19-Pandemie die intensivmedizinischen und Beatmungskapazitäten für schwer erkrankte COVID-19-Patienten nicht ausreichten. Die ethischen Diskussionen um die Kriterien einer Triage halten weiterhin an [1]. Weitgehende Einigkeit herrscht darüber, dass hohes Lebensalter alleine kein Grund für den Ausschluss von intensivmedizinischer Behandlung darstellen darf. Doch wie lassen sich Auswahlkriterien, wie maximaler Behandlungsnutzen, Gleichbehandlung, Bevorzugung systemrelevanter Patienten (Ärzte, Pflegende) und Bevorzugung von Menschen, die am meisten zu verlieren haben (junge, ansonsten gesunde COVID-19-Patienten) auf Krebskranke anwenden. Gilt für diese automatisch, dass kein maximaler Nutzen erreichbar ist, da ihre Lebenserwartung ohnehin eingeschränkt sei. Und überleben sie nicht deutlich seltener eine schwere COVID-19-Erkrankung, bzw. eine invasive Therapie? Sollte man zumindest Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung im Falle nicht ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen von der Behandlung ausschließen?

Dagegen sprechen die Ergebnisse einer großen prospektiven britischen Studie mit 800 Krebspatienten, die gleichzeitig symptomatisch an COVID-19 erkrankt waren [2]. Ein Drittel der Patienten hatte innerhalb von 4 Wochen vor dem positiven PCR-Test eine cytotoxische Chemotherapie erhalten; weitere Therapien in diesem Zeitraum umfassten Immun- und Hormontherapien, zielgerichtete Therapien und Strahlentherapien. Eine aktive Systemtherapie stellte kein erhöhtes Mortalitätsrisiko bezüglich der COVID-19-Mortalität dar. Eine erhöhte Mortalität ging auch bei Krebspatienten, wie bei allen anderen Patienten, mit einem höheren Lebensalter, männlichem Geschlecht und Komorbiditäten, wie kardiovaskulären Vorerkrankungen, einher [2].

Es besteht also kein Grund, Krebs als Ausschlusskriterium für eine intensivmedizinische Behandlung bei Ressourcenknappheit zu betrachten. Hoffen wir, dass das Thema Triage uns auch bei der nächsten Infektionswelle erspart bleibt.

Hoffen wir auch, dass der gewohnte fachliche Austausch auf Fortbildungsveranstaltungen und Kongressen bald wieder möglich sein wird. Glücklicherweise ist zumindest die Fortbildung durch Fachzeitschriften, wie den klinikarzt in diesen Zeiten gesichert. In diesem Sinne empfehle ich Ihnen die Beiträge in diesem Schwerpunktheft.



Publication History

Article published online:
25 November 2020

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  • Literatur

  • 1 Emanuel EJ. et al Fair allocation of scarce medical resources in the time of covid-19. NEJM 2020; 382: 2049-2055
  • 2 Lee LYW. et al Covid-19 mortality in patients with cancer on chemotherapy or other anticancer treatments: a prospective cohort study. Lancet 2020; 395: 1919-1926