PSYCH up2date 2021; 15(01): 3-4
DOI: 10.1055/a-1255-8516
Editorial

Zankapfel Psychotherapie

Andreas J. Fallgatter

In der griechischen Mythologie führte der „Zankapfel“, mit dem der trojanische Prinz Paris die Liebesgöttin Aphrodite zur schönsten der griechischen Göttinnen kürte, zum Trojanischen Krieg und brachte jahrzehntelanges Leid über alle Beteiligten. Die Psychotherapie kann als ein ähnlicher „Zankapfel“ betrachtet werden: Schon zu Zeiten von Freud, Jung und Adler kam es immer wieder zu sehr emotional geführten Streitigkeiten zwischen Vertretern verschiedenster psychoanalytisch-tiefenpsychologisch geprägter Richtungen. Seit Entwicklung der Verhaltenstherapie mit Watson, Skinner und Beck entstand ein jahrzehntelang anhaltender „Schulenstreit“ zwischen psychoanalytisch-tiefenpsychologisch geprägten Vertretern auf der einen und verhaltenstherapeutisch orientierten Protagonisten auf der anderen Seite um die bessere Art der Psychotherapie. Mit der Entwicklung der Verfahren der sogenannten 3. Welle der Verhaltenstherapie (z. B. DBT, ACT, MBCT) ist dieser „Schulenstreit“ in den letzten zwei Jahrzehnten etwas in den Hintergrund getreten, da diese neuen Verfahren typischerweise Elemente sowohl aus der Tiefenpsychologie als auch der Verhaltenstherapie miteinander kombinieren. Gute Verhaltenstherapeuten beziehen in ihre Behandlungskonzepte heutzutage selbstverständlich biografische Elemente und tiefenpsychologische Überlegungen mit ein, ebenso wie moderne tiefenpsychologisch-analytisch ausgebildete Therapeuten nicht auf gut wirksame Elemente der Verhaltenstherapie wie schriftliche Situationsanalysen oder Expositionselemente verzichten. Aber auch heutzutage ist die Psychotherapie weiterhin ein Zankapfel, insbesondere zwischen den Berufsgruppen der Psychologen auf der einen und der psychotherapeutisch tätigen Ärzte auf der anderen Seite. Dieser Streit kulminiert aktuell in der Zuständigkeit für und in der Ausgestaltung des gesetzlich verankerten neuen Studienganges „Psychotherapie“. Die Psychotherapie hat ohne Zweifel eine wesentliche Rolle in den Behandlungsleitlinien für die meisten psychischen Erkrankungen und spielt daher eine große Bedeutung auch für alle medizinischen Disziplinen, die sich mit der Diagnose und Behandlung von psychischen Erkrankungen beschäftigen. Es wird allerdings häufig nicht genügend berücksichtigt, dass die Psychotherapie neben Pharmakotherapie, biologischen Verfahren und sozialpsychiatrischen Maßnahmen nur eines von vier wesentlichen Behandlungsverfahren für psychische Erkrankungen ist. Gerade bei den schwerer erkrankten Patienten, die häufig stationär oder teilstationär in den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, aber auch Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie sowie Psychosomatische Medizin und Psychotherapie behandelt werden müssen, sowie bei vielen im ambulanten Sektor von Psychiatern und Nervenärzten therapierten Patienten spielt die Kombination aus mehreren dieser Therapieansätze unter Einbezug der Psychotherapie zur schnellen und effektiven Behandlung die entscheidende Rolle. Darüberhinaus ist eine qualifizierte und sichere Psychotherapie ohne profunde Kenntnisse und Fertigkeiten in den theoretischen Grundlagenfächern der Medizin und ohne Berücksichtigung anderer Organsysteme nicht durchführbar. Dieser Umstand erfordert eine intensive Zusammenarbeit von Psychotherapeuten mit Ärzten in der Diagnostik und der Differentialdiagnostik, aber auch in der Therapie und deren fortlaufender Überwachung, falls die Psychotherapie nicht direkt von den entsprechend qualifizierten Ärzten erbracht wird. Eine Besonderheit besteht noch in der Notwendigkeit interprofessioneller, teambasierter Behandlung von schwer psychisch erkrankten und immer häufiger auch somatisch multimorbiden Patienten, die typischerweise in den Kliniken behandelt werden müssen und krankheitsbedingt gar nicht in der Lage sind, 50-minütige Richtlinien-Psychotherapiesitzungen sinnvoll zu bewältigen. Aus all diesen Gründen erscheint für den geplanten Studiengang „Psychotherapie“ ein kooperatives Zusammenwirken von Psychologischen und Medizinischen Fakultäten dringend erforderlich, um in Zukunft exzellent ausgebildete Psychotherapeuten zu haben, die auch die schwer psychisch erkrankten Patienten angemessen behandeln können.



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Article published online:
04 January 2021

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